Von Jürgen Binder
Es ist Sonntag 9:00 Uhr und ich stehe zusammen mit 3.500 begeisterten Langläufern im Tehvandi Stadion in Otepää. Was folgen sollte sind 63 Kilometer „Double Poling“ auf eisiger und damit schneller Strecke. Aber der Reihe nach: Vor zwei Tagen bin ich von München über Kopenhagen nach Tallinn geflogen. Tallinn ist die Hauptstadt von Estland und damit bereits ziemlich weit im Nordosten der europäischen Union. Von Tallinn ging es via Expressbus nach Süden in Richtung Tartu, der zweitgrößten Stadt Estlands. Doch mein eigentliches Ziel liegt noch einmal ein kleines Stück südlich von Tartu: Der 46. Tartu Maraton findet auf einer 63 Kilometer langen Strecke von Otepää nach Elva statt. Obwohl ich bis vor kurzem noch nicht mal eine Vorstellung von der geographischen Lage der Strecke hatte, so gehört dieser Skimarathon doch zu den ältesten, traditionsreichsten und teilnehmerstärksten Veranstaltungen seiner Art. Zwar können seit dem Ende der Sowjetunion keine fünfstelligen Teilnehmerzahlen mehr erreicht werden, mehr als 3.500 Teilnehmer am Hauptlauf sprechen aber eine deutliche Sprache. Wenn man sich durch Estland bewegt wird relativ schnell klar, dass es sich keineswegs um ein bergiges Land handelt. Der Eindruck, es sei alles flach, täuscht allerdings. Auf den 63 Kilometern, die in diesem Winter dank guter Schneefälle im Dezember und Januar auf der Originalstrecke stattfinden können, sind insgesamt circa 700 Höhenmeter zu überwinden.
Nach der Anreise am Freitag ging es am Samstag zunächst in den Tähtvere Sportpark. Bei genügend Schneelage können die Bewohner Tartus hier im Winter ihre Runden drehen. Es stehen Loipen mit längen zwischen 400 Meter und 6 Kilometer zur Verfügung. Ein Teil davon ist abends beleuchtet. Hier war es also möglich, die Reisestrapazen etwas aus den Beinen zu bekommen und vorm Rennen noch einmal auf Ski zu stehen. Gleichzeitig fand der Mini Marathon statt, bei dem über 1.300 Kinder teilnahmen. Anschließend ging es in das Lounakeskuse Einkaufszentrum am Stadtrand von Tartu. Hier war das Race Centre angesiedelt, inklusive Startnummernausgabe, Marathon Expo und Wachs-Service. Bisher bin ich Startnummernausgaben und dergleichen eigentlich nur in Funktionsgebäuden oder dunklen Hallen gewohnt, in denen die Sportler meist ziemlich unter sich sind. Nicht so in Estland. Im Innenhof des großen Einkaufszentrums präsentierten unterschiedlichste Hersteller so ziemlich alles, was das Langläuferherz höherschlagen lässt. Und so mischten sich Sportler und nicht Sportler bunt durcheinander. Eine bessere Werbung für unseren Sport im Rahmen eines Skimarathons kann ich mir kaum vorstellen. Viele nutzen den gratis Wachsservice, um ihre Ski mit Gleit- und Steigwachs versehen zu lassen. Ich hatte mich allerdings schon etwas vorm Rennen dazu entschieden auf Steigwachs zu verzichten und das Rennen zu Schieben. Bei der Wachsauswahl bin ich etwas ins Risiko gegangen und habe mich bereits einen Tag vor Abflug am Donnerstag vorm Rennen festgelegt und meine Ski präpariert.
Es ist Sonntag 9:03 Uhr und ich stehe immer noch im Stadion in Otepää. Das Wetter ist eigentlich perfekt. Die ersten Sonnenstrahlen erreichen gerade den Startbereich und bis auf einen leichten, teils böigen Wind sind die Temperaturen von knapp über 0 Grad perfekt für einen schönen Langlauf Tag. Da ich bisher weder beim Tartu Maraton noch bei irgendeinem anderen aussagekräftigen Skimarathon in klassischer Technik am Start war, habe ich nur ein kleines Problem: Ich stehe im letzten Startblock mitten unter den Startnummern ab 2.500 und aufwärts. Insgesamt sind heute 3.506 auf der langen und 1.361 auf der kurzen Strecke über 31,5 Kilometer am Start, ich habe also etwa 2.500 bis 3.000 Langläufer vor mir, die sich jetzt langsam aber sicher in Bewegung setzen. Die erste Kurve im Stadion ist geschafft, aber trotz extrem breiter Stecke ist an ein zügiges Vorankommen im eigenen Tempo erst einmal noch nicht zu denken. Darauf hatte ich mich aber schon eingestellt und irgendwann muss man ja mal Anfangen und sich die Qualifikation für eine vordere Startnummer verdienen. Entsprechend schaffte ich es nach circa 5 Minuten dann auch endlich über die „Startlinie“. Geduldig und mit einem Lächeln auf den Lippen machte ich mich also auf die Aufholjagd.
Obwohl der Winter in Estland bisher der beste seit einigen Jahren war, hatten im Vorfeld des Rennens Regen und warme Temperaturen der Strecke etwas zugesetzt. Durch Nachtfrost vorm Rennen ist der sehr nasse Schnee allerdings komplett durchgefroren, was insgesamt zu einer extrem schnellen aber auch sehr harten und eisigen Spur führte. Die Strecke besteht eigentlich über die gesamte Distanz aus einem permanenten Auf- und Ab. Wirklich lange Anstiege fehlen ebenso wie schwierige Abfahrten. Außerdem sind die Strecken sehr breit und weisen fast über die gesamte Länge mindestens 8 Spuren, teilweise deutlich mehr auf. Trotzdem kam es gerade auf den ersten Kilometern zu kleinen Staus in den Anstiegen und teilweise chaotischen Situationen in den Abfahrten. Vor allem bergab waren doch in dem Bereich des Feldes, in dem ich mich Anfangs befand einige sehr wackelige Läufer dabei und durch die schnelle Spur wurde das natürlich noch verstärkt. Mit der nötigen Geduld und Umsicht konnte ich etlichen vor mir gestürzten Läufern ausweichen und mich aus allen gefährlichen Situationen raushalten.