Sonntagmittag, ?12:23 Uhr?. Meine Skatingski gleiten über glitzernden Schnee. Noch eine letzte Rechtskurve, dann gerade aus auf den Zielbogen zu. Ich erhöhe die Frequenz. Synchroner Stockeinsatz, rechtes Bein, synchroner Stockeinsatz, linkes Bein. Alles was ich noch an Energie habe, muss jetzt in den Schnee. Geschafft. Die Sonne strahlt mit mir um die Wette. Ich liebe Langlaufen. Vor allem im März bei Sonnenschein. In diesem Paradies.
Grüne Wiesen. Ortschaften in Wartebereitschaft für den Sommertourismus. Schnee haben diese Dörfer schon lang nicht mehr gesehen. Und wenn doch einmal über Nacht Schneeflocken am Boden liegenblieben, fräste der Fönsturm am nächsten Tag unerbittlich die weiße Schicht vom Untergrund. Dieses Bild könnte als Postkartenmotiv dem ausgefallenen Winter 2020 dienen. Gäbe es da nicht einen Ausweg. Eine Auffahrt in ein kleines Winterparadies. Ganz am Ende von Mittenwald schraubt sich eine enge Serpentinenstraße hinauf zur Tiroler Grenze. Wachposten sind keine mehr stationiert. Und dennoch ist der Übertritt sofort spürbar. Der Wald lichtet sich und gibt den Blick frei auf das weite Tal. Schneebedeckt, links wie rechts eingerahmt von steilen Berghängen im Wintergewand offenbart sich das Leutaschtal. Die imposanten Erhebungen auf drei Seiten dienen der Talbegrenzung. So wie Banden eine Arena begrenzen. Ein der Natur entsprungenes, gigantisches Skistadion. Die Engstelle am Taleingang haben früher Grenzsoldaten bewacht. Heute scheinen diese Aufgabe als eingefrorene Tannenbäume getarnte Wachmänner übernommen zu haben. Sie sorgen dafür, dass der Winter hier oben konserviert bleibt.
Vielleicht war es ein ebenso schneearmer Winter, in dem der Schriftsteller Ludwig Ganghofer das Leutaschtal entdeckte. Die Landschaft zog ihn derart in ihren Bann, dass er sein „Schloss Hubertus“ hier oben baute und gern und lange dort verweilte. Auf Ganghofers illustrer Gästeliste standen Namen wie Richard Strauß, Rainer Maria Rilke und Karl Valentin. Fünfzig Jahre lang findet nun schon zu seinem Gedenken der Ganghoferlauf statt. Und wie im achtzehnten Jahrhundert bei Ludwig Ganghofers Empfängen, stehen zum runden Geburtstag des ihm gewidmeten Laufs auch heute renommierte Gäste auf der Einladungsliste. Nun sind es weniger Literaten und Künstler, heute trifft sich die Skilanglaufelite. Dieses Jahr noch einmal mehr. Denn zum Jubiläum erhielt der Ganghoferlauf den Zuschlag zur Austragung der Skimarathon-Europameisterschaft. Der Volkslaufcharakter bleibt davon unberührt. Ganz im Gegenteil. Die Topografie des Leutaschtals bietet für Profis und Genussläufer gleichermaßen passende Strecken. Am Samstag auf den Klassikdistanzen eine sehr abwechslungsreiche Runde durch das obere Tal, immer wieder unterbrochen durch Ausflüge in die Ausläufer der begrenzenden Berge. Herausfordernde Anstiege, gefolgt von rasanten, aber machbaren Abfahrten. Die Skatingstrecke am Sonntag verläuft dagegen weitestgehend flach durch das Tal. Erstmals gibt es auch eine Kombiwertung, bestehend aus den Ergebnissen beider Tage. Das interessiert mich.
Eigentlich bin ich Sommersportlerin. Trailläuferin. Ich bin gerne lange unterwegs. Nicht so gern auf Asphalt. Lieber auf Wanderwegen, Pfaden. In der Natur. Mein Mann Michael ist Wintersportler, Langläufer. Auch er ist gerne lange unterwegs. Egal wo, Hauptsache auf Schnee. Im Sommer betreut er mich oft, im Winter ich ihn. Hier in Leutasch können wir beide an den Start gehen. Die Streckenlänge ist überschaubar, für Verpflegung an der Strecke sorgt der Veranstalter. Freitagabend holen wir die Startunterlagen. Die freiwilligen Helfer haben für jeden Läufer ein Lächeln übrig. Wir bekommen Startnummer, Gutscheine für die Pastaparty, das Schwimmbad und die Jubiläums-Finishermütze. Viele Läufer kommen jedes Jahr wieder. Meet and greet. Doch nicht zu lange. Wir müssen noch Ski wachsen. Zum Glück hilft uns unser Freund Christian. Die letzten Tage hat es noch einmal geschneit. Fantastisch fürs Panorama, schwieriger für das Steigwachs. Michael wird schieben. Ob ich das mit meinen deutlich dünneren Oberarmen auch schaffe? Ich will es probieren. Ich will auch mit einem schnellen Ski die Abfahrten hinuntersausen.