In einem ausführlichen Interview mit sports.ru erzählt die ehemalige Langläuferin und Biathletin Anfisa Reztsova von ihrem Sportlerleben. Die 55-Jährige, die heute als Biathlon Trainerin arbeitet, macht dem russischen Verband große Vorwürfe, was im Nachgang natürlich große Wellen schlägt.
Vier Töchter und ein Enkelsohn
In dem ausführlichen Interview mit sports.ru bei ihr zu Hause in Khimki an der nordwestlichen Stadtgrenze Moskaus erzählt das große Idol im nordischen Sport Russlands von ihrem Leben und ihrer sportlichen Vergangenheit. Die 1964 als Anfisa Romanova geborene Athletin begann in ihrer Heimat Vladimir, 170 Kilometer östlich von Moskau, mit dem Langlaufsport. Ihr erster Trainer als spätere Leistungssportlerin war Leonid Reztsov, der 1985 ihr Ehemann wurde. Inzwischen ist das Paar seit ein paar Jahren geschieden, sie haben aber zusammen vier Töchter. Dazu zählen auch die ehemalige Biathletin Daria Virolaynen und Biathletin Kristina Reztsova, die zur Zeit wegen Schwangerschaft pausiert. Nesthäkchen Masha ist zwölf Jahre alt und damit nur wenige Jahre älter als Anfisa Reztsovas erstes Enkelkind Daniel Virolaynen.
Vom Verband zur Abtreibung genötigt
1984 schaffte Anfisa Romanova als 19-Jährige den Sprung ins Langlauf Nationalteam, nachdem einige Athletinnen nach den Olympischen Spielen ihre Karriere beendet und Platz für den Nachwuchs gemacht hatten. Ein Jahr später heiratete sie den Biathleten Leonid Reztsov und beide hofften auf Nachwuchs im Jahr 1986, in dem kein Großereignis auf dem Programm stand. „Im Juni 87 kamen wir im Trainingslager in Otepää an und Elena Välbe und ich stellten beide fest, dass wir schwanger sind. Ich ging zu Nationaltrainer Lopukhov und ich musste mit dem Rad nach Tartu fahren – 40 Kilometer, die Trainingseinheit wurde nicht abgesagt“, sagte sie und erklärte weiter: „Elena war jünger als ich, noch Juniorin, so dass sie das Kind zur Welt bringen durfte.“ Reztsova wurde von Estland mit dem Zug nach Moskau geschickt, wo sie sich in der Poliklinik beim Gynäkologen vorstellen musste. „Sie ist schwanger, aber wir brauchen Medaillen – sie kann das Kind nicht bekommen“, war nach Angaben Reztsovas die Aussage der Trainer gewesen. Ehemann Leonid habe die Entscheidung ihr überlassen und sich komplett aus der Verantwortung gezogen. Anfisa Reztsova erklärte sich schließlich mit der Abtreibung einverstanden, forderte aber vom Verband eine eigene Wohnung für sich und ihren Ehemann, da sie noch bei den Eltern lebten. Wie erwünscht startete sie bei den Olympischen Spielen in Calgary, gewann Gold mit der Staffel und Silber über 20 Kilometer Freistil.
Geständnis: Eigenblut-Doping vor Calgary
Weiter erzählt sie, dass es bei diesen Erfolgen in Calgary wohl nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Über 20 Kilometer wurde sie von Landsfrau Tamara Tikhonova geschlagen. „Ich hege keinen Groll gegen sie. Ich wusste ja, warum sie gewonnen hat“, so Reztsova. Weiter erklärt sie: „Wir bereiteten uns in zwei Gruppen auf die Olympischen Spiele vor: Sie war in Grushins Gruppe, ich bei Lopukhov. In unserer Gruppe gab es kein Doping – nur das Blut wurde behandelt.“ Das Wort „Doping“ nimmt Reztsova dabei nicht in den Mund, beschreibt aber anschließend die Praktiken des Eigenblut-Dopings: „Drei- oder viermal wurde uns Blut in der Vorbereitungsperiode abgenommen. Die Trainer merkten, wenn wir in guter Form waren und schickten uns dann zur Abnahme. Sie nahmen uns etwa 800ml ab, füllten es ab und kühlten es. Dann wurde es uns im Winter zurückinjiziert – unser eigenes Blut. Vielleicht hat es dem einen oder anderen geholfen, aber ehrlich gesagt: Ich habe keinen Effekt gespürt.“ Das Team habe das Eigenblut-Doping bei Ausdauer Athleten über viele Jahre fortgeführt, auch nachdem Biathlet Sergei Tarasov 1992 in Albertville nach einer missglückten Infusion fast zu Tode gekommen sei.
Mobbing im Biathlon Team
Nach vielen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten mit den Trainern rund um die Olympischen Spiele 1988 entschied sie sich zu einem radikalen Schritt: Sie wechselte zum Biathlon. Schnell danach wurde sie schwanger und brachte im Januar 1989 Tochter Daria zur Welt. Ab 1990 trat sie im Biathlon Weltcup an und war dort nach Anfangsschwierigkeiten sehr erfolgreich. In den folgenden fünf Jahren gewann sie zwei Olympische Goldmedaillen und eine Bronzene sowie einen Weltmeistertitel, zehn Weltcuprennen und zweimal den Gesamtweltcup. Im April 1996 wurde sie zum zweiten Mal Mutter, aber mit der Rückkehr ins Team tat sie sich 1997 schwer, nachdem ihre Leistungen sich schon vor der Babypause deutlich verschlechtert hatten. Wie sie bereits in einem Sport-Express Interview 2013 erzählte, konnte sie sich nicht nicht für Nagano 1998 qualifizieren und rutschte anschließend in eine Depression. Der Grund dafür sei ein „Angebot“ von Trainer Leonid Guriev in den Monaten vor den Spielen gewesen: „Du kannst ins Team kommen, wenn du mit mir ins Bett gehst.“ Reztsova weigerte sich und beschwerte sich beim russischen Biathlon Präsidenten Alexander Tikhonov. Der habe ihr Mut gemacht, dass sie es doch ins Olympia Team schaffen würde, aber sie sei ohne Trainer gewesen und habe beim Anschießen nur die Patronen bekommen, die die anderen übrig ließen. Sie entschloss sich, dem Biathlon wieder den Rücken zu kehren und wechselte zurück zum Langlauf. Aber auch Verbandspräsident Akentiev habe ihr die Rückkehr schwer gemacht: „Warum sollte ich dich mit nach Nagano nehmen? Du bist ein Niemand“, zitiert sie ihn im Interview. Reztsova nahm das Olympia-Aus schwer und sah sich vor dem Ende ihrer Karriere: „Dann kamen die Depressionen über mich. Manchmal war die Traurigkeit so groß, dass ich eine ganze Flasche Vodka getrunken habe. Gott sei Dank sagte dann mein Mann zu mir: ‚Anfisa, du bist stark, reiß dich zusammen!‘ Mein Mann wurde wieder mein Trainer und ich gewann die Sommer Meisterschaften.“
Wieder Doping nach Rückkehr zum Langlauf
Nach ihrer Rückkehr zu den Langläufern sei sie wieder mit Doping in Kontakt gekommen. Anders als Ende der 80er habe sie diesmal den Effekt gespürt. „Ich habe das Doping bemerkt, als wir die Injektionen ständig bekamen. Ja, dann hatte es dann einen Effekt. Das war 1996, als ich zum Langlauf zurückkam. Ich ackerte wie ein Elch und dann sagten sie mir, man müsse dieses und jenes tun.“ Laut Reztsova war ihr gesagt worden, es seien Vitamine, jeder würde die nehmen. Sie müsse dafür auch nichts zahlen. „Warum sollte ich nicht? Ich möchte für mich selbst zahlen“, habe sie gesagt und dem Arzt 2500 Dollar gegeben – obwohl die Trainer gesagt hätten, sie müsse nichts nehmen. Sie käme schließlich vom Biathlon und würde die Langläuferinnen nicht schlagen. Dennoch sei sie zu dem Arzt gegangen, habe für vier Monate Behandlung bezahlt und das getan, was er anbot. „Ich leugne Doping nicht, ich habe es getan. Ich weiß nicht, ob es Doping war oder nicht, ob es geholfen hat oder nicht.“ Sie ließ offenbar alles mit sich machen und fragte nicht nach. „Ich weiß nicht, was genau ich genommen habe und will es auch gar nicht wissen. Es hat mir einfach geholfen.“ Aber nicht nur Anfisa Reztsova war gedopt, die Injektionen hätten nach ihren Angaben alle bekommen. Mit ihrer Aussage belastet sie auch Olga Danilova, die 2002 in Salt Lake City des Dopings überführt wurde: „Da gab es Danilka, Olga Danilova, sie trainierte bei Grushin. Sie nahm an zwei oder drei Olympischen Spielen teil und das war ganz auffällig. Plötzlich gewann sie dann! Ich konnte das gar nicht verstehen, warum? Aber die hatte einen Sponsor, Vladimir Alexandrov. Ich glaube, er war ein Produzent bei Rubin TV. Er hat dafür gesorgt, dass sie die beste Behandlung vom Arzt bekam.“ Eine weitere Athletin, auf deren Doping Vergangenheit sie eingeht, ist die 2002 überführte Larisa Lazutina, die immer mit ihrem Hämoglobinwert experimentiert habe. Nach ihrer Rückkehr wurde Reztsova noch einmal Achte im Gesamtweltcup, gewann Staffel-Gold 1999. Danach verschlechterten sich auch im Langlauf die Ergebnisse der Mittdreißigerin, junge Athletinnen rückten nach, so dass sie schließlich keine Startplätze mehr erhielt und 2002 endgültig ihre Ski an den Nagel hängte.
Reaktionen auf das Interview
Wie nicht anders zu erwarten, das Interview von Anfisa Reztsova kam in Russland nicht besonders gut an. So äußerte sich zum Beispiel der ehemalige Nationaltrainer Alexander Grushin wütend über Reztsovas Worte: „Sie sollte Verantwortung für sich selbst übernehmen. Wer gibt ihr das Recht, Scheiße über andere Leute zu verteilen? Was hat sie für einen Grund dafür? Über Danilova sagte sie, dass sie „plötzlich allen davon gelaufen ist“. Wenn ich Danilova wäre, würde ich sie verklagen, das ist ein Fall fürs Gericht, das ist eine Beleidigung! Versteht sie denn nicht, was sie da sagt? Wenn sie sowas öffentlich ausspricht, ist das Rufmord!“, erklärte er. Außerdem fügte er hinzu: „Sie sagte, in ihrer Gruppe habe es kein Doping gegeben, aber was ist mit dem Blut? Was ist das dann, wenn nicht Doping? Das ist die schlimmste Art von Doping nach Steroiden!“ Nach dem öffentlichen Gegenwind von Grushin, aber auch vom damaligen Biathlon Präsidenten Alexander Tikhonov, machte Anfisa Reztova einen Rückzieher. Die Journalisten hätten ihr die Worte in den Mund gelegt: „Ich habe das Wort „Doping“ nie erwähnt! Ich sagte nur, dass ich an einem medizinischen Programm teilnahm und es mir geholfen hat. Das haben sich die Journalisten ausgedacht, frei ausgedrückt, eine andere Bedeutung gibt es nicht. Wir hatten ein spezielles medizinisches Programm. Unterstützung bei der Regeneration. Ein sachkundiger Experte gab die Injektionen und es hat geholfen“, behauptete sie. Sports.ru liegt allerdings die Tonaufnahme des Interviews vor und Reztsova hätte sich mit der finalen Version einverstanden erklärt. Inzwischen ruderte sie aber erneut zurück: „Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Diese Aufregung, ich habe nicht eine solche Resonanz nach meinem Interview mit Sports.ru erwartet…. Aber gestern habe ich eine Menge Anrufe gehabt. Ich denke, ich verstehe nun, dass ein Teil des Interviews wütend macht und jeden aufregt – niemand las, wie schwer es war, das Schießen zu lernen, wie ich vier Mädchen zur Welt brachte und sie aufzog. Alle lasen nur die Worte über Doping und Anschuldigungen.“