Wohin zogen all die Fernweh-Geplagten früher, die aus Richtung Osten auf den Eisernen Vorhang schauten? Wo tobte sich der reiselustige Sachse oder Thüringer aus, wenn ihm nach einem echten Skiabenteuer abseits der wenigen überfüllten Skipisten im „Roten Meer“ des Ostblocks war? Manche fuhren unter abenteuerlichen Begleitumständen mit dem Zug bis nach Bulgarien, einige wenige schafften es – mit oder ohne Visum – bis in die damalige Sowjetunion. Die meisten aber entdeckten ein gar nicht SO fernes Schneeparadies als ihre winterliche Ski-Heimat. Das Riesengebirge! Längst nicht mehr so hoffnungslos überlaufen wie vor dem Mauerfall, offenbart dieser Gebirgszug an der tschechisch-polnischen Grenze dem Skiwanderer ungeahnte Möglichkeiten und spektakuläre Naturerlebnisse, die man in Mitteleuropa gar nicht vermuten würde.
Sind aller guten Dinge wirklich Drei? Es klingt so lächerlich und ist doch bittere Wahrheit: Zweimal schon haben wir erfolglos Anlauf genommen, den Kamm des Riesengebirges mit Skiern zu überqueren. Von der berühmten Skiflugschanze in Harrachov sind es – je nachdem wieviele Abstecher man sich gönnt – ganze 40 Kilometer über den Kamm des Gebirges bis nach Mala Upa, wo der Gebirgszug gen Osten ausläuft. Ganze 1602 Meter misst der höchste Gipfel auf diesem Kamm, die Schneekoppe (Snezka) – und doch kann man in diesem außergewöhnlichen Bergland das Fürchten lernen… Dazu später mehr.
Von Dresden bis nach Harrachov fahren wir knapp zwei Stunden. Lassen die Schanzen rechts liegen und parken am östlichen Ortsausgang. Das Skifahrerherz schlägt höher – wir finden auf dem Weg ins beschauliche Mumlavska Dolina (Mummel-Tal) eine perfekt gespurte Loipe. Und nach 200 Metern schon das erste Wirtshaus. In Tschechien heißen die in der Landes-Sprache „Hostinec“, weshalb wir unserem Touren-Projekt den Kosename „Hostinec-Hopping“ gegeben haben. Die Bauden und Wirtshäuser im Riesengebirge genießen Kultstatus, servieren bestes böhmisches Bier, sind (noch) sehr preiswert und haben eine bewegte Geschichte. Dieses erste „Hostinec“ aber lassen wir rechts liegen, wir wollen so schnell wie möglich hinauf zum Kamm des Gebirges, auf den sogenannten „Freundschaftsweg“, der immer ganau entlang der Grenze zwischen Tschechien und Polen verläuft. Durch eine Landschaft, die so gar nicht nach Mitteleuropa zu passen scheint. Spärlich bewachsen nur dieser Kamm, fast kahl. Und er sieht nicht nur aus, wie ein skandinavisches Fjäll, er fühlt sich oft auch so an.
Während unser erster Überquerungsversuch einst im jämmerlichen Tauwetter gescheitert war, sind wir beim zweiten Anlauf in einem wahren Inferno stecken geblieben. Wie aus dem Nichts war über Nacht ein grimmiger Schneesturm mit arktischer Kälte über das Riesengebirge hergefallen. Kein Fortkommen mehr im Orkan, der binnen zwei Tagen knapp zwei Meter Neuschnee über die Berge schüttete. Akute Lawinengefahr überall, dicke Suppe dazu, die übermannshohen Markierungspfähle entlang der Skirouten waren kaum noch auszumachen – wir wissen nur zu gut, wie viele in diesem scheinbar so harmlos-idyllischen Mittelgebirge schon leichtsinnig ihr Leben gelassen haben. „Rübezahl hat sie geholt“, sagen die Einheimischen und meinen damit jenen furchterregenden bärtigen Riesen, der in den Sagen jener Region die Hauptrolle spielt und dem Gebirge seinen Namen gegeben hat. Mit dick vereisten Bärten und wahrlich „kalten Füßen“ sind wir seinerzeit fast panisch talwärts geflüchtet – und wieder nach Hause gefahren. Wir sind also gewarnt, aber diesmal soll´s gelingen!
Wir steigen aufwärts in Richtung Kamm und erreichen den „Freundschaftsweg“. Strahlender Sonnenschein empfängt uns oberhalb der Baumgrenze – wir können fast die gesamte Wegstrecke überblicken, die vor uns liegt. Immer ganz oben – das bekommt hier eine ganz neue Bedeutung und bietet faszinierende Schauspiele. Links von uns (im Norden) schauen wir hinunter nach Polen, Richtung Karpacz und Sklarzka Poreba, alles ist schon grün Mitte März. Rechterhand das tschechische Tiefland sehen wir nicht, es versteckt sich unter den Wolken über denen wir mit unseren schmalen Brettern ostwärts laufen. Vorbei an der mächtigen Schneegruben-Baude, die wie eine Trutzburg oben auf dem Kamm thront – allerdings nicht mehr als Baude betrieben wird, sondern nur noch als Radio-Station. Der Blick in die steil abfallenden Schneegruben Richtung Polen macht uns klar, warum hier oben das Wetter manchmal so verrückt spielt: Wenn bei entsprechenden Windrichtungen die Luft an diesem mächtigen Nordabbruch des Gebirges aufsteigt, kühlt sie so schnell ab, dass es oben unweigerlich zu stürmischen Entladungen kommen muss.
Wo wir heute unbeschwert schwungvoll und glücklich übers konstante Wetter unsere Spur ziehen dürfen, haben sich vor noch gar nicht allzu langer Zeit noch ganz andere Dramen abgespielt. Der sogenannte Freundschaftsweg im Freundesland durfte von DDR-Bürgern seit Beginn der 80er Jahre nicht mehr begangen werden – Polen war seit Ausrufung des Ausnahmezustands Sperrgebiet für die „Ossis“. Viele haben sich einen Dreck drum geschert… und wenn einer erwischt wurde, gabs für die tschechischen Grenzposten auf dem Kamm ein paar Tage Sonderurlaub. Zum Glück irgendwie dann doch schon lange her…
So traumhaft die Loipen in die Südhänge gezogen waren, so beschwerlich ist es mitunter hier oben. Der Schnee verblasen, verharscht, teilweise spiegelglatt eisig. Er läßt zumindest erahnen, dass auch in diesem Winter hier schon einige Naturgwalten getobt haben. Trotzdem erreichen wir – zum Teil abwärst vorsichtshalber zu Fuß – die Spindlerbaude. Eine der vielen, die das Riesengebirge schmücken. Enstanden in wilhelminischen Zeiten, als vor allem die Berliner zu Beginnd es 19. Jahrhunderts das Riesengebirge zum „Sommerfrischlern“ für sich entdeckten. Inzwischen begehrte Ziele und Spekulationsobjekte für Prager Millionäre – weshalb so manche Baude ihren einstig-urigen Charme verlor, oder ganz „zufällig“ mal abgebrannt ist. Auch die Spindlerbaude ist ein Neubau inzwischen, der Charme ist ein bißchen dahin, die Preise sind gestiegen aber immer noch vergleichsweise traumhaft niedrig. 1,30 Euro für den halben Liter Pilsener Urquell vom Fass! Und eines muss man den Tschechen nach wie vor lassen. Das Bier können sie! Und deftige Küche genauso – vom Palatschinken als Dessert ganz zu schweigen!
Am nächsten Morgen weiter nach „Klein-Skandinavien“ – es geht vom Spindlerpass aufwärts und dann über ein schier ewiges Plateau bis hinüber zur Schneekoppe. Der höchste Gipfel hier ist längst kein jungfräulicher mehr, tschechische und polnische Gemeinschaftsbauwerke „zieren“ den höchsten Punkt genauso wie ein Postamt. Egal, wir müssen da hoch – der höchste Punkt gehört zu einer echten Überquerung einfach dazu! Sollen die Sessel-Lift-Fahrer doch hämisch lachen, als sie sehen, wie wir uns über den glattgelatschten Schnee durch den Anstieg quälen – uns völlig egal! Die Aussicht ist Lohn genug. Bestraft werden wir in der Abfahrt. Jens – unserem besten Skifahrer – haut es bei einem verunglückten Schwung über die Eisplatten die Bindung aus dem Langlauf-Ski. Er bringt´s mit akrobatisch anmutenden Abfahts-Manövern auf einem Brett zu Ende – bis ins Tal, Hut ab!
Nach zwei Tagen erreichen wir die liebliche Dorfkulisse von Mala Upa, diesmal verschont geblieben von einem wütenden Rübezahl, vollgestopft mit schönen Eindrücken und auch allerlei böhmischen Leckereien. Und vor allem um diese Erfahrung reicher: Manchmal sind wirklich aller guten Dinge Drei.
Und eines ist sowieso klar: Wiederkommen lohnt sich HIER immer!
Nützliche Infos:
http://de.wikipedia.org/wiki/Riesengebirge
www.weitwanderungen.de/Info_Tschechien.htm
Anmerkung:
Man kann die Tour auch im polnischen Szklarzka Poreba starten und sich mit der Gondel preiswert bis zur Reifträgerbaude auf den Kamm liften (lassen). Auch als Rundtour mit Abstieg über Špindleruv Mlýn und Rückweg über die Elbfall-Baude (Labska Bouda) und die Elbquelle durchführen.
Literatur/Karten:
Conrad Stein Verlag, Struckum; http://outdoor.tng.de
Tschechien – Freundschaftsweg Riesengebirge – Rundtour
OUTDOOR Band 115,ISBN 9783893925155 Preis 12,90 Euro
Der Autor:
Thorsten Kutschke (42) lebt und arbeitet als freiberuflicher Journalist und Filmemacher in Dresden. Er moderiert u.a. das Bergsteiger-Magazin „Biwak“ im MDR-Fernsehen und berichtet seit mehr als einem Jahrzehnt über den internationalen Ski-Zirkus. In eigener Regie verantwortet er die Berg-Film-Edition „Traumtouren-Film“ (im Internet unter www.traumtouren-film.de)