Von Reto April
Vor etwas mehr als zwei Jahren traf ich eine berufliche Entscheidung. Nach 15 Jahren als Lehrer im Klassenzimmer beschloss ich, eine neue Herausforderung anzunehmen: die Ausbildung zum Schulleiter. Dieser Schritt hat mir nicht nur beruflich, sondern auch persönlich neue Perspektiven eröffnet. Im Sommer 2026 werde ich das Amt als Schulleiter an meiner Schule übernehmen können, aber vorher gönne ich mir eine besondere Zeit. Ein halbes Jahr, das ich unter anderem für ein Bildungssemester nutze – eine einmalige Chance, um mich weiterzubilden, aber auch ein Abenteuer zu erleben, das mich schon lange reizt: eine Reise von zuhause am Bodensee bis zum Nordkap auf den Rollski. Doch noch befinde ich mich in der Vorbereitungsphase. Der Startschuss fällt am 10. Mai 2025.
Die Faszination des Abenteuers
Schon seit Langem faszinieren mich Berichte von Menschen, die grosse Strecken zu Fuss oder mit dem Fahrrad zurücklegen. Immer wieder las ich von solchen Touren und spürte den Drang, etwas Ähnliches zu unternehmen. Doch es sollte etwas ganz Besonderes sein. In den letzten Jahren habe ich meine Leidenschaft im Skilanglauf entdeckt, ein Sport, der mich immer wieder aufs Neue fordert und inspiriert. Meinen ersten größeren Schritt im Langlauf machte ich, als ich mit 18 Jahren das erste Mal am Engadin Skimarathon teilnahm und das ohne große Vorbereitung oder einem Langlauf-Kurs. Mit der Zeit wollte ich meine Technik verbessern und begann, nach einem Trainingsplan von Thomas Freimuth vom Ausdauernetzwerk zu trainieren. Die zusätzliche Teilnahme an verschiedenen Langlaufcamps mit ihnen brachte nicht nur Fortschritte, sondern weckte auch neue Wünsche in mir. Durch diese Camps und die inspirierenden Geschichten anderer Teilnehmer, vor allem durch die Erzählungen über den legendären Wasalauf in Schweden, wurde in mir der Wunsch geweckt, diesen Lauf eines Tages selbst zu meistern. Ein Traum entstand: die Teilnahme am berühmten Wasalauf in Schweden.
Der Wasalauf: Vom Traum zur Realität
Der Wasalauf (auf schwedisch Vasaloppet) ist eines der längsten und härtesten Langlaufrennen der Welt, eine 90 Kilometer lange Strecke durch die schwedischen Wälder – in der klassischen Technik. Ein Rennen, das auf einer historischen Strecke ausgetragen wird, die die legendäre Flucht von Gustav Vasa nachzeichnet. Ich war jedoch immer in der Skating-Technik unterwegs gewesen, was mich zunächst zögern liess. Doch bei einem Langlaufcamp hörte ich von einer Möglichkeit, den Wasalauf in der Skating-Technik zu absolvieren – jedoch als Nachtlauf, zu zweit, mit Stirnlampe und Rucksack. Diese Herausforderung reizte mich ungemein. Vor etwas mehr als vier Jahren wagte ich es gemeinsam mit Hans, den ich in einem Langlauf-Camp kennengelernt hatte. Wir starteten am Freitagabend bei Einbruch der Dunkelheit und kämpften uns durch die Nacht. Ein aussergewöhnliches Erlebnis, das uns körperlich forderte und zugleich ein Gefühl der Verbundenheit mit der Natur und dem Sport schenkte. Die Freude und Erleichterung waren gross, als wir nach 90 km gemeinsam das Ziel erreichten. Ein weiterer Höhepunkt folgte dann am Sonntagmorgen darauf, als wir als Zuschauer das Hauptrennen in der klassischen Technik verfolgten. Schon damals stand für mich fest: Eines Tages würde ich auch diesen Hauptlauf bestreiten.
Zwei Jahre später erfüllte ich mir diesen Traum und nahm am klassischen Vasaloppet teil, der am ersten Sonntag im März mit über 15.000 Teilnehmern stattfand. Ich erinnere mich noch genau an die Kälte, die in die Knochen kroch, als ich mich auf die ersten Kilometer wagte. Die Landschaft war atemberaubend – unendliche Wälder, glitzernder Schnee und eine Stille, die fast heilig wirkte. Die Herausforderungen dieses Rennens waren jedoch nicht nur physischer Natur. Kilometer um Kilometer zwang mich dazu, immer wieder nach innen zu schauen, mich zu sammeln, den Fokus zu behalten. Doch das Gefühl, das Ziel zu erreichen, war unbeschreiblich – nicht nur ein Sieg über die Strecke, sondern über mich selbst.
Aber wie es mit Abenteurern oft ist: Sobald man ein Ziel erreicht, beginnt man nach dem nächsten zu suchen. Zwei Jahre später stand ich wieder in Schweden – diesmal mit einem neuen Vorhaben. Nicht nur einmal wollte ich die 90 Kilometer von Sälen nach Mora meistern, sondern gleich zweimal: zuerst im Skating, dann in der klassischen Technik. Es war eine Herausforderung, die mich erneut an meine Grenzen brachte, aber die ich mit der gleichen Entschlossenheit und dem Wissen um meine Fähigkeiten anging. Anfangs März 2024 war es schließlich so weit. Die schwedischen Wälder und ihre endlose Stille riefen mich erneut, und ich folgte. Zwei Läufe, zweimal 90 Kilometer innerhalb von 36 Stunden. Jeder Schritt, jeder Atemzug war ein Moment, der mich daran erinnerte, warum ich diese Reise angetreten hatte: um zu wachsen, um zu erleben und um mich immer wieder selbst herauszufordern.
Wenn ich heute zurückblicke, denke ich nicht nur an die physische Anstrengung, sondern an die innere Wandlung, die durch diese Erfahrungen stattgefunden hat. Diese Reisen, ob im Schnee von Schweden oder im Leben, haben mich gelehrt, dass wahres Wachstum oft ausserhalb der Komfortzone geschieht – dort, wo die Landschaft wild und ungezähmt ist, und man nur den eigenen Atem und den Rhythmus der Natur als Begleiter hat.
Die Idee zum Nordkap
Nach diesem persönlichen Erfolg wollte ich etwas ganz Besonderes machen, etwas, das mich erneut fordern würde. Ich erinnerte mich beispielsweise an die Berichte von Fredrik Erixon, einem Schweden, der mit seinen Rollski lange Strecken quer durch Europa bewältigt hatte. Sofort war mir klar: Mein nächstes Abenteuer würde mich auf den Rollski zum Nordkap führen, dem nördlichsten Punkt Europas. Der Gedanke, diese beeindruckende Reise nicht mit dem Auto oder sogar mit dem Fahrrad, sondern auf Rollski zu absolvieren, faszinierte mich. Doch eine solche Tour verlangt eine sorgfältige Planung. Auf der Europakarte und im Internet suchte ich nach geeigneten Routen. Die Strecke sollte möglichst auf Radwegen verlaufen, da ich für die Rollski grundsätzlich auf asphaltierte Wege angewiesen bin. Der Weg zum Nordkap, das etwa 3600 Kilometer im direkten Weg vom Bodensee entfernt liegt, würde über 4300 Kilometer lang werden, wenn man die Radwege und Umwege berücksichtigt. Für meine geplante Reisezeit von Mitte Mai bis Ende Juli 2025 bedeutete das, dass ich jede Woche etwa 430 Kilometer zurücklegen müsste – das wären rund 70 Kilometer am Tag, mit einem Ruhetag pro Woche. Ein ambitionierter Plan, aber ich bin entschlossen, ihn zu verwirklichen.
Familie und Organisation
Ein solches Abenteuer will gut vorbereitet sein, vor allem wenn man nicht allein reist. Meine Familie wird mich auf dieser Reise begleiten. Um meinen beiden schulpflichtigen Kindern auch während der Reise den Unterricht zu ermöglichen, habe ich bei unserer Wohngemeinde ein Gesuch gestellt, damit ich sie im Privatunterricht beschulen kann. Als Lehrperson auf der Schulstufe der Kinder hat man diese Möglichkeit dazu. Meine Frau wird ebenfalls dabei sein und hat sich für die Zeit unbezahlten Urlaub genommen. Gemeinsam haben wir einen Camper gemietet, der uns als mobiles Zuhause und Schulzimmer dienen wird. Die Entscheidung, die Familie mitzunehmen, macht diese Reise zu einer besonderen Erfahrung. Es geht nicht nur um den sportlichen Aspekt, sondern auch darum, gemeinsam als Familie eine unvergessliche Zeit zu erleben. Der Camper wird uns als Basis dienen, während ich voraussichtlich jeweils am Morgen auf meinen Rollski Kilometer für Kilometer Richtung Norden zurücklege.
Training und Ausrüstung
Natürlich stellt eine solche Reise nicht nur eine organisatorische, sondern auch eine körperliche Herausforderung dar. Ich vertraue auf die Unterstützung von Thomas Freimuth und Mathias Flunger vom Ausdauernetzwerk in München, die mich bei der Trainingsplanung unterstützen. In einem Videocall tauschten wir uns ein erstes Mal aus und entwickeln gemeinsam Strategien, um die Dauerbelastung von täglich 70 Kilometern zu bewältigen. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Roll-Ausrüstung. Ich habe in den letzten Jahren viel mit Rollski trainiert, doch für dieses Abenteuer brauche eine neue Ausrüstung, welche die Anforderungen an die Tour erfüllt. Meine bisherigen Rollski und meine SKIKE – eine Wortkreation aus Ski und Bike – sind mittlerweile etwas in die Jahre gekommen. Die SKIKE waren bisher ideal für Strecken, die nicht komplett asphaltiert waren, da sie mit Gummirädern, ähnlich wie bei Fahrrädern, und einer Bremse ausgestattet sind und auch Kiestraßen und unebenes Gelände bewältigen können. Doch für das Nordkap wollte ich auf das Beste setzen, das der Markt zu bieten hat.
Durch meine Internetrecherche stieß ich auf Otto Eders Homepage, dem SKIKE-Erfinder und Cross-Skate-Pionier. Otto hat das SKIKE-Konzept weiterentwickelt und den FLOIG erschaffen, einen ultraleichten Cross-Skate, der ideal für lange Strecken auf Asphalt, aber auch für unebenes Gelände geeignet ist. Der Name FLOIG, abgeleitet von der österreichischen Mundart, bedeutet „flieg!“. Nachdem ich von seinem neuen Produkt erfuhr, kontaktierte ich Otto per E-Mail, um ihm von meinem geplanten Projekt zu berichten. Zu meiner Freude antwortete er umgehend und zeigte grosses Interesse an meiner Idee. Er war so begeistert, dass er mich nach Arnreit in Österreich einlud, um sich persönlich kennenzulernen und sein neues Material zu testen. Während den letzten Herbstferien beschlossen wir, die fünfeinhalbstündige Fahrt nach Arnreit auf uns zu nehmen. Dort nahm sich Otto Eder einen Vormittag Zeit, um mir den FLOIG vorzustellen. Er hatte zwei verschiedene Ausführungen, speziell angepasst an meine Masse und Bedürfnisse, vorbereitet, die ich testen durfte. Bereits die ersten Fahrten auf den FLOIG-Rollern zeigten mir, warum sie diesen Namen tragen. Das Gefühl war fast, als würde man über den Boden schweben – leicht, dynamisch und mühelos. Es war beeindruckend, wie viel technologische Raffinesse und Leichtigkeit Otto in diesen Cross-Skates vereint hat.
Der Winter als Vorbereitung
Während für mich normalerweise der Sommer die Zeit ist, um mich auf die Skilanglaufsaison vorzubereiten, diente in diesem Jahr der Winter als Trainingsphase für mein Abenteuer ab Mai. Ich habe mich – so gut es mir im Alltag möglich war – auf die bevorstehende Tour vorbereitet und dabei meine neuen FLOIG-Skates kennengelernt. Die körperliche und mentale Vorbereitung war entscheidend, denn die tägliche Herausforderung auf Rollen wird gross sein. Die meisten Trainingseinheiten liegen bereits hinter mir – jede einzelne hat mich meinem großen Ziel ein Stück nähergebracht.
Aufbruch ins Ungewisse
Die Nordkap-Tour ist nicht nur eine sportliche Herausforderung, sondern auch ein persönliches Abenteuer. Es ist ein Weg, der mich aus meiner Komfortzone holt, mir aber auch die Freiheit gibt, neue Erfahrungen zu sammeln und über mich hinauszuwachsen. Das Ziel ist klar: Ende Juli 2025 will ich das Nordkap erreichen. Doch was auf dem Weg dorthin passiert, welche Höhen und Tiefen mich erwarten und ob ich es tatsächlich schaffe, das bleibt ungewiss. Und genau das macht diese Reise so aufregend. Ich bin bereit für dieses Abenteuer, bereit, meine Grenzen zu testen und bereit, mit meiner Familie unvergessliche Momente zu erleben.
Hier könnt ihr die Reise von Reto aktuell mitverfolgen: www.polarsteps.com