„Langläufer werden im Sommer gemacht“ – so alt, so abgedroschen und so wahr. Im Umkehrschluss gilt: Wer den Sommer dank Motivationsproblemen und gesundheitlichen Wehwehchen verbummelt, hat im Winter nicht die Form für lange Strecken. So fördert bei mir ein Konditionstest bei einem Wettbewerb im Januar Erschreckendes zutage. In der Folge werden alle geplanten Rennen gestrichen und stattdessen Training angesetzt. Ohne eine echte Chance, das Versäumte wieder aufzuholen, ermöglichen die überwiegend klassisch zurückgelegten Kilometer wenigstens eine gewisse Schadensbegrenzung. Das einzige fest gebuchte Saisonereignis, der Bieg Piastów, findet zum Glück erst Anfang März statt.
Trotz der ungünstigen Startvoraussetzungen macht sich Vorfreude breit, als ich, mit Vereinskamerad Matthias Heynen auf der Schnellstraße von Prag in Richtung Liberec fahrend, die schneebedeckten Gipfel des Iser- und Riesengebirges zu Gesicht bekomme. Kurz hinter der polnischen Grenze passieren wir das tief verschneite Skistadion in Jakuszyce, wo reges Treiben herrscht. Nach dem Einchecken im Hotel in Szklarska Poręba sind auch wir dort vertreten, um einen Eindruck von der Strecke zu bekommen. Das reizvolle Langlaufgebiet lässt die Vorfreude auf das Rennen noch weiter wachsen. Eine gnädige Wendung des Wettergeschehens bringt es mit sich, dass die ursprünglich für das Rennen angekündigten Schneefälle bereits am Vortag herunterkommen. Uns gibt das die Gelegenheit, im neu eingerichteten Wachsraum des Hotels in aller Ruhe unsere Skier zu präparieren. Die Wetteraussichten, an der Rezeption ständig aktualisiert, verdichten sich immer mehr in Richtung trockenen und kalten Wetters, so dass wir uns sogar trauen, schon jetzt das Steigwachs aufzutragen. Am Nachmittag besteht dann Gelegenheit zu einem Besuch im Ort, der angesichts des Ereignisses natürlich vom internationalen Langläufervolk geprägt ist.
Ein wunderschöner malerischer Sonnenaufgang über dem Riesengebirge signalisiert am nächsten Morgen, dass die Prognosen nicht getrogen haben. Schnell sind die wenigen Kilometer zum Startgelände überwunden und wir können auf den in der Nacht hervorragend präparierten Loipen die Skier testen. Es ist so kalt, dass ich das bereits aufgetragene Swix VR 40 mit einer zusätzlichen Schicht VR 30 abdecke. Zum Glück scheint die Sonne auf das Startgelände und macht die Kälte etwas erträglicher. Das ausgeklügelte Startsystem sieht vor, dass alle zwei Minuten ein Block mit etwa 200 Läufern auf die Strecke geschickt wird. Alles ist bestens organisiert, die Läufer lassen sich von der bloßen Präsenz der Helfer von wilden Frühstarts abhalten und überhaupt nimmt man in Osteuropa ein solches Ereignis mit einer wohltuenden Lockerheit und Entspanntheit in Angriff, dass man sich angesichts der Hektik und Verbissenheit, die bei manchen Rennen in Mitteleuropa herrschen, in eine andere Welt versetzt fühlt. Dank meiner Mitgliedschaft im Euroloppet Club darf ich im zweiten Startblock kurz nach den mit gelben Nummern von markierten Plätzen startenden Eliteläufern ran. Die Strecke verengt sich nach dem Passieren des Stadions auf einer im Wald liegenden Wendeschleife, bereits dort hat sich aber das Feld schon so gut sortiert, dass ein hindernisfreies Laufen möglich ist. Nur die schnelleren Läufer aus dem nachfolgenden Starterfeld müssen sich in dem nun folgenden längeren Anstieg etwas gedulden, es sei denn, sie nehmen Überholmanöver zwischen den Spuren in Kauf. Bereits am Ende dieses Anstiegs sind dann genug Lücken zum Überholen vorhanden.
Anders als der im gleichen Gebirge beheimatete Jizerská Padesátka, dessen Wendepunkt unweit der Strecke des Bieg Piastów liegt, durchschneidet dieser nicht das gesamte Gebiet, sondern gewinnt seine Distanz auf mehreren Schleifen in unmittelbarer Nähe des Startgeländes. Eine Lösung, die den Organisatoren ihre Arbeit sicher leichter macht, was aber nicht heißt, dass der Kurs für die Läufer dadurch eintönig wird. Ganz im Gegenteil – da die Strecke in vielen Windungen abwechslungsreich durch die Wälder geführt wird, ergeben sich immer wieder interessante Ausblicke auf die Höhen des Iser- und Riesengebirges. Das sonnige Wetter trägt dazu bei, dass zwischenzeitlich eine regelrechte Euphorie bei mir aufkommt. Kurz nach dem ersten Anstieg führt die Strecke zurück ins Stadion, um von dort in einer längeren Abfahrt entlang einer stillgelegten Bahntrasse den tiefsten Punkt der Strecke zu erreichen. Der nun folgende Anstieg ist zwar lang, aber von der Steigung her moderat, so dass ich hier noch nicht an meine Grenzen komme. Eher der auf der Hochebene mehligere Schnee, für den mein Ski etwas zu stumpf ist, führt dazu, dass ich zunehmend Körner lasse. Die Lücken, die sich in den Flachstücken und den harmlosen Abfahrten auftun, lassen sich in den Anstiegen immer schwerer wieder zulaufen, je länger das Rennen geht. Zwischen Kilometer 25 und 37 sind so eher persönliche Durchhalteparolen („die nächsten zwei Kilometer“, „die nächste Verpflegung“) angesagt, als dass ich mich daran stören würde, dass nun zunehmend Läufer aus höheren Startgruppen nach vorne drängen. Die Quittung für den vergeigten Sommer hole ich mir auf diesem Abschnitt ganz bewusst ab.
Als wichtiges Zwischenziel habe ich mir ein langes Gleitstück herausgesucht, von dem angesichts der beim ersten Durchlauf entdeckten Markierungstäfelchen erkennbar war, dass es am Ende in Richtung Start- und Zielgelände führen würde. Die Kilometrierung ließ außerdem die Hoffnung zu, dass der mit 50 km ausgeschriebene Lauf in Wirklichkeit wohl nur eine Distanz von vielleicht 42 km aufweisen würde. Ob dies den Schneefällen des Vortags geschuldet ist oder schon immer so geplant war, ist mir völlig egal. Hauptsache, es geht nicht noch einmal rauf. Und glücklicherweise geht es, nach dem Durchlaufen der Wendeschleife in umgekehrter Richtung, tatsächlich in Richtung Ziel. Aufkommende Bewölkung und ein unangenehmer kalter Wind tragen zusätzlich dazu bei, dass ich das Ende des Rennens herbeisehne. Nach dem Empfang der Finisher-Medaille laufe ich daher schnurstracks zum Parkplatz weiter. Matthias, der das Rennen etwa eine Stunde vor mir als Siebzehnter beendet hat, wartet schon und gemeinsam „flüchten“ wir ins Hotel zu einer heißen Dusche.
Später am Nachmittag fahre ich noch einmal zurück nach Jakuszyce, wo gerade die Schlussphase des 26 km-Rennens läuft. Die Läuferinnen und Läufer, die schon recht lange unterwegs sind, erschöpft wirken und teilweise mit ihren Skiern Probleme haben, reißen im Ziel die Arme hoch und lassen sich von ihren Verwandten und Freunden feiern. Angesichts des hier vorgelebten echten Volkssports wollen auch bei mir keine negativen Gedanken über meine eigene Leistung aufkommen und ich freue mich, diesen so attraktiven Lauf trotz suboptimaler Vorbereitung „relaxed“ über die Bühne gebracht zu haben.