Im Winter geht das ganze mühsame Training von vorne los… Das Wetter meint es sehr gut mit mir, die Schneelage im nördlichen Schwarzwald ist so gut wie selten, ich kann fast jedes Wochenende in die Loipe und der Expander muss nicht ganz so oft herhalten. In diesem Jahr findet der Lauf nicht Anfang April, sondern Ende März statt. Das bedeutet etliche Stunden mehr Dunkelheit in der Nacht, ich muss mit fast zwölf Stunden rechnen. Davor ist mir ein bisschen bange. Was, wenn die Stirnlampe bei der Kälte nicht lang genug durchhält, was wenn ich mich verlaufe…? Wir buchen die Flüge nach Luleå, den Mietwagen, die Hütte im Arctic-Camp Jokkmokk. Der Termin rückt näher, ich werde immer nervöser. Bin ich eigentlich völlig durchgeknallt? Bei diesem Lauf stehen internationale Spitzenläufer vorne am Start! Dahinter lauter taffe Kerle und sportliche Frauen, die von klein auf Langlaufen gelernt haben. Die in Skandinavien oder zumindest im Erzgebirge oder Schwarzwald wohnen, die nicht nur jedes Wochenende ernsthaft in der Loipe trainieren, sondern auch werktags, vor und nach der Arbeit, ihre Kilometer abspulen. Und dahinter will ich mich einreihen!? Mir wird immer wieder bange vor meiner eigenen Courage. Dann hilft es nur, mich zu erinnern: Du kannst jederzeit aussteigen, wenn es nicht mehr geht. Mein Liebster hält erstaunlich geduldig meine Launen aus. Und jetzt liege ich hier, im Bett in der Hütte in Jokkmokk, wohin mich der Wachsmann mit seinen klugen Worten geschickt hat. Inzwischen habe ich auch ordentlich zu Abend gegessen und jetzt versuche ich, wirklich zu schlafen und mich nicht mehr von meinen bangen Gedanken ablenken zu lassen.
Der Lauf
Morgens um drei klingelt der Wecker. Frühstücken und nach Jokkmokk fahren, die gewachsten Skier abholen. Was bin ich froh, dass ich meinen eigenen „Elite-Service“ habe. Ich muss nicht mit allen anderen in den Bus, mein Liebster bringt mich an den Start. So habe ich ihn erstens noch so lange wie möglich bei mir und kann zweitens bis kurz vor dem Start noch im warmen Auto bleiben. Die erste Hälfte – einlaufen und Rhythmus finden. Im Startfeld reihe ich mich ganz hinten ein. Um mich herum stehen zumindest noch einige Gestalten, die auch nicht gerade wie Top-Läufer aussehen. Eher wie Genussläufer, wie ich. Ich bin fürchterlich aufgeregt, aber jetzt nicht nur wegen der vielen Bedenken, sondern auch weil ich mich freue. Auf die Natur, den Wald, den See, die Weite und auf Strampeln mit allen Vieren. Der Tross setzt sich langsam in Gang. Zumindest hier hinten kommt erst einige Zeit nach dem Startschuss Bewegung in die Menge. Vorne sieht das bestimmt ganz anders aus, aber davon bekomme ich hier nichts mit. Hier reiht man sich nach und nach in den Spuren des Vordermannes ein und schiebt los. Es geht zuerst über den Burgávrre, einen See, es schneit leicht vor sich hin. Ich versuche, einen angenehmen Rhythmus zu finden und nicht daran zu denken, wie viele Kilometer vor mir liegen. Einfach die Landschaft und den Schnee genießen. Die parallelen Spuren vom Start vereinigen sich nach und nach zu einer einzigen, auf der jetzt über dreihundert Läufer wie an einer Perlenkette aufgereiht durch die Loipe schieben. Und ziemlich am Ende der Kette ich.
Hinter dem See ist die Spur auf den ersten dreißig Kilometern ziemlich zerfahren, das ist mühsam, die Ski gleiten nicht gut geradeaus. Wenn das so weitergeht, halte ich das nie im Leben durch! Später wird es zum Glück besser. Die Spur zieht sich scheinbar endlos kerzengerade auf einem breiten Weg durch den Wald. Aber hier ist sie fest und stabil. Die Perlenkette hat jetzt deutliche Lücken und zerfällt in einzelne Grüppchen. Auf der festen Spur finde ich einen gleichmäßigen Rhythmus und schiebe zufrieden vor mich hin. Immer mit Musik auf dem Ohr, ohne die läuft bei mir nichts. Wie so oft bei solchen Veranstaltungen, hängen sich ein, zwei Kerle hinter mich und bleiben über lange Strecken penetrant nah hinter mir. Ich laufe lieber für mich allein. Auch da hilft mir die Musik, mich abzulenken und mich von meinen Verfolgern nicht stören zu lassen. An den Verpflegungsstellen gibt es reichlich Getränke und Essen, an einigen größeren sogar warme Suppe. Ich verdrücke etliche Käsebrote und lasse nach 60 Kilometern auch die Ski nachwachsen. Ab und zu bin ich auf gleicher Höhe mit einer jungen Schwedin und wechsele ein paar Worte mit ihr. Als uns die Spitzenläufer entgegenkommen sagt sie, wir seien gut in der Zeit, die seien ihr letztes Jahr an der selben Stelle begegnet. Bei Kilometer 88 jubelt mir Ralf entgegen. Das war die erste Stelle auf der Strecke, in deren Nähe er mit dem PKW kommen konnte. Und auch hierher musste er von der Straße noch einige hundert Meter zu Fuß gehen. Nach diesem Motivationsschub geht es endlich auf das letzte lange Stück See vor dem Umkehrpunkt in Årrenjarka. Endlich auf dem Sakkat, auf den ich vor einem halben Jahr sehnsüchtig hinunter geschaut habe. Jetzt bin ich tatsächlich hier, bald 100 Kilometer unterwegs und kann es kaum glauben. Ich liebe diese offenen, weiten Passagen auf den Seen. Andere finden das langweilig, aber mir geht das Herz auf in dieser grandiosen Landschaft, wenn der Blick ganz weit geht und der Laufrhythmus fast meditativ wird.
Vor lauter Begeisterung werde ich etwas flotter. Auf nach Årrenjarka, ich bin gespannt, wie das im Winter aussieht. Im Sommer habe ich dort auf dem Steg gesessen und die Füße ins Wasser gestreckt. Jetzt steht vor Årrenjarka, bei Kilometer 100, ein Durchlauftor des Veranstalters. Und kurz dahinter wieder mein Liebster. An der großen Verpflegungsstelle mache ich eine längere Pause mit warmer Suppe, ich gehe sogar kurz ins Zelt. Dann schickt mich Ralf mit einem Kuss wieder auf die Strecke. Später erfahre ich, dass meine Mutter genau diesen Moment erwischt hat, als sie in die Webcam-Übertragung geschaut hat. Fast denke ich „Halbzeit“ und muss mich daran erinnern, dass das nicht stimmt. Wenn ich tatsächlich die nächsten 100 Kilometer zurück an den Start nach Purkijaur schaffe, muss ich noch 20 Kilometer weiter nach Jokkmokk. Halbzeit ist also erst in zehn Kilometern. Als ich die hinter mich gebracht habe, denke ich dann noch mal „Halbzeit“ und jetzt bin ich schon ein bisschen stolz darauf. Außerdem fällt mir hier auf, dass mir noch etliche Läufer entgegenkommen. Zumindest im Moment bin ich also noch lange nicht Letzte.
Die zweite Hälfte – eine lange Nacht
Bald darauf treffe ich Ralf wieder, kurz nach Kilometer 110, an der Verpflegung, die auf dem Hinweg Kilometer 88 entspricht. Hier verabschieden wir uns für lange Zeit. Die nächste Möglichkeit, uns zu sehen, ist am Start, also bei Kilometer 200! Und vor mir liegt eine lange Nacht. Als es beginnt zu dämmern, habe ich die junge Schwedin vor mir. Sie läuft gleichauf mit zwei Männern. Ich hänge mich eine Weile dran, sie haben schon die Stirnlampen an. Da kann ich ihnen gut folgen, ohne meine schon anschalten zu müssen. Besonders als es ein paar Abfahrten hinunter geht, bin ich froh darum, da wäre ich allein im Dunklen sonst viel ängstlicher und langsamer hinuntergefahren. Beim Gedanken an die Strecke, die noch vor mir liegt, setzt sich in meinem Kopf fest, dass alles gut wird, wenn ich die Kilometermarke 170 erreiche. Wenn ich da erst mal bin, dann sind es nur noch 50 Kilometer, die schaffe ich auf alle Fälle irgendwie! Gleichzeitig wird mir bewusst, wie absurd das eigentlich ist „nur 50 Kilometer…“ Trotzdem bleibt das als Zwischenziel fest in meinem Kopf. Später bin ich dann mutterseelenallein im Wald. Und entgegen meiner Befürchtung fühle ich mich pudelwohl. Es ist nicht gruselig, es ist eine Idylle! Ich laufe in diesem wundervollen Wald voller dünner Kiefern vor mich hin. Im Schein meiner treu funktionierenden Stirnlampe und es ist gar nicht unheimlich, sondern einfach nur schön! Mein MP-3-Player spielt ein beflügelndes Lied nach dem anderen und ich schwebe geradezu. Tom Petty singt „Love is a long, long road“. Das hier auch… Ab und zu sehe ich andere Stirnlampen in der Ferne. Manchen komme ich näher und rutsche vorbei, andere schieben an mir vorbei.