Von Anne Staeves
„Go home, eat and sleep“ rät mir der Wachstechniker in Jokkmokk. Ich habe gerade meine Skier abgegeben, damit er sie mir für den morgigen Tag fachmännisch wachsen kann. 220 Kilometer soll das Wachs möglichst durchhalten – und ich hoffentlich auch. Ich frage ihn, wie er die Lage einschätzt, was der Wetterbericht sagt. Und er bestätigt, was ich schon gehört habe, aber nicht wahr haben will: Es soll schneien!
In meinem Gesicht spiegelt sich wohl wieder, was ich denke: „Wie um Himmels Willen, soll ich dieses größenwahnsinnige Unterfangen auch noch bei Neuschnee schaffen??“ Es ist doch ohnehin schon ein Fall grober Selbstüberschätzung, dass ich mich überhaupt hier angemeldet habe. Schließlich kann ich nicht mal gut Langlaufen. Ich mache die mangelnde Technik einigermaßen wett mit guter Ausdauer. Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht mal, ob ich überhaupt so lange wach bleiben kann, wie ich für diese Strecke brauchen werde. „Eat and sleep“ sagt er – und er hat ja so was von recht! Mehr als das kann ich jetzt eh nicht mehr tun und das Wagnis noch mit Kohlenhydrat- und Schlafmangel anzugehen, wäre erst recht dumm. Also geht es zurück in die Unterkunft, eine Hütte im Arctic-Camp Jokkmokk und ich lege mich aufs Ohr. Ich versuche zu schlafen, aber meine Gedanken kreisen um den morgigen Tag und darum, was mich hier hergebracht hat.
Die Vorgeschichte
Zum Langlaufen gekommen bin ich überhaupt nur durch einen Ermüdungsbruch im Jahr 2010. Mein Bein war im Winter noch nicht wieder belastbar genug fürs Marathon- geschweige denn Ultramarathonlaufen. Aber gleiten statt trampeln, das sollte schon funktionieren. So habe ich zunächst ein paar Loipenkilometer im Schwarzwald gesammelt. Da ich als Kind zumindest schon sporadisch auf Langlaufski gestanden habe, funktionierte das leidlich. Angestiftet, das wieder zu versuchen, hatte mich Ralf – mein Liebster, ein begeisterter Langläufer, fünffacher World-Loppet-Master und Global-Master. Als er im Frühjahr 2011 zum Saami-Ski-Race nach Finnland flog, habe ich ihn begleitet und mich für die kurze Variante von 60 km ab Näkkälä angemeldet. Das war mit meinen geringen Fähigkeiten in einer fast völlig zugeschneiten Klassikspur eine echte Herausforderung. Aber auch ein unglaubliches Erlebnis, in Wind und Wetter in der offenen Tundra. Ohne den starken Rückenwind hätte ich es wohl nicht bis ins Ziel in Kautokeino geschafft. Ab da war ich „angefixt“ und das Skilanglaufen ist mir inzwischen eine sehr liebgewonnene Ergänzung zum sommerlichen Laufen geworden. Mit allen Vieren zu strampeln, statt nur mit den Beinen, hat ja auch was für sich. Nun wohne ich zwar in Bonn, was nicht gerade ein guter Ausgangspunkt fürs Langlaufen ist. Aber ich fahre fast jedes Wochenende nach Karlsruhe und von dort sind die ersten Schwarzwaldloipen nur eine gute Stunde entfernt. Bis 2017 hatte ich dann etliche Langläufe gesammelt, unter anderem natürlich den Vasalauf, auch den Rucksacklauf im Schwarzwald. Immer unter „ferner liefen“ oder sogar als letzte, aber glücklich im Ziel. Ja, die langen Distanzen sind mein Ding, da hilft mir meine Ausdauer.
Und dann höre ich vom Nordenskiöldsloppet. Aber 220 Kilometer??? Bei der Vorstellung bleibt mir erst mal die Spucke weg. Ich kann ja nicht mal so lange wach bleiben, wie ich dafür rechnerisch brauchen würde. Das ist nichts für mich! „The world’s toughest and longest ski race!“ schreibt der Veranstalter auf der Homepage. Von Jokkmokk nach Kvikkjokk! Die Gegend kenne und liebe ich doch vom Wandern mit Zelt und Rucksack im Sommer. Auf dem Sakkat, dem See auf dem ich schon gepaddelt bin, soll der Lauf langgehen… Der Gedanke, ob ich es doch wagen sollte, lässt mich nicht mehr los; „Versuchen kann ich es doch, ich kann ja jederzeit aufhören, wenn es zu viel wird. Wenn ich zum Beispiel nur bis zum Wendepunkt in Årrenjarka komme, ist das doch auch toll…“ Nach und nach wird die fixe Idee zum Entschluss. Mein Liebster bestärkt und unterstützt mich.
Die Vorbereitung
Im Winter 2016/2017 bereite ich mich so intensiv vor, wie mir das von Bonn und Karlsruhe aus möglich ist. Zum ersten Mal kann ich mich durchringen, auch dröge Trockenübungen zu machen. Ich ziehe regelmäßig an einem Expander, um meine weiblich-schwache Oberkörpermuskulatur zu kräftigen. Was nutzen mir meine guten Beine, wenn im Flachen viel Doppelstockschub gefragt ist!? Dazu aufraffen kann ich mich allerdings erst dann regelmäßig, als ich die Verankerung für den Expander neben dem Fernseher montiere. Sonst ist mir das echt zu langweilig. Auf Skiern spule ich wieder diverse Veranstaltungen ab. Dem Veranstalter des Nordenskiöldsloppet sende ich viele Mails, ich bombardiere ihn mit etlichen Fragen, die er freundlich und mit Engelsgeduld beantwortet. Und dann traue ich mich endlich und melde mich an. Eine Woche vor der Veranstaltung werde ich krank! Das darf doch nicht wahr sein! Ich spüre die Erkältung kommen, aber ich will es nicht wahr haben. Ich hoffe jeden Tag auf eine Wunderheilung, aber es wird stattdessen schlimmer. Der Traum ist erst mal geplatzt! Frustriert hole ich mir beim Arzt ein Attest, damit wird mir die Startgebühr für 2018 gutgeschrieben. Im Sommer bin ich tatsächlich wieder in Lappland wandern. Mit Zelt und Rucksack komme ich von Norden her durch das Vallevarre nach Kvikkjokk. Als ich den Prinskullen, einen kleinen Berg nördlich von Kvikkjokk erreiche, habe ich einen grandiosen Blick auf den Sakkat. Ich genieße die Aussicht und frage mich, ob ich da ein halbes Jahr später langschlurfen werde.
Im Winter geht das ganze mühsame Training von vorne los… Das Wetter meint es sehr gut mit mir, die Schneelage im nördlichen Schwarzwald ist so gut wie selten, ich kann fast jedes Wochenende in die Loipe und der Expander muss nicht ganz so oft herhalten. In diesem Jahr findet der Lauf nicht Anfang April, sondern Ende März statt. Das bedeutet etliche Stunden mehr Dunkelheit in der Nacht, ich muss mit fast zwölf Stunden rechnen. Davor ist mir ein bisschen bange. Was, wenn die Stirnlampe bei der Kälte nicht lang genug durchhält, was wenn ich mich verlaufe…? Wir buchen die Flüge nach Luleå, den Mietwagen, die Hütte im Arctic-Camp Jokkmokk. Der Termin rückt näher, ich werde immer nervöser. Bin ich eigentlich völlig durchgeknallt? Bei diesem Lauf stehen internationale Spitzenläufer vorne am Start! Dahinter lauter taffe Kerle und sportliche Frauen, die von klein auf Langlaufen gelernt haben. Die in Skandinavien oder zumindest im Erzgebirge oder Schwarzwald wohnen, die nicht nur jedes Wochenende ernsthaft in der Loipe trainieren, sondern auch werktags, vor und nach der Arbeit, ihre Kilometer abspulen. Und dahinter will ich mich einreihen!? Mir wird immer wieder bange vor meiner eigenen Courage. Dann hilft es nur, mich zu erinnern: Du kannst jederzeit aussteigen, wenn es nicht mehr geht. Mein Liebster hält erstaunlich geduldig meine Launen aus. Und jetzt liege ich hier, im Bett in der Hütte in Jokkmokk, wohin mich der Wachsmann mit seinen klugen Worten geschickt hat. Inzwischen habe ich auch ordentlich zu Abend gegessen und jetzt versuche ich, wirklich zu schlafen und mich nicht mehr von meinen bangen Gedanken ablenken zu lassen.
Der Lauf
Morgens um drei klingelt der Wecker. Frühstücken und nach Jokkmokk fahren, die gewachsten Skier abholen. Was bin ich froh, dass ich meinen eigenen „Elite-Service“ habe. Ich muss nicht mit allen anderen in den Bus, mein Liebster bringt mich an den Start. So habe ich ihn erstens noch so lange wie möglich bei mir und kann zweitens bis kurz vor dem Start noch im warmen Auto bleiben. Die erste Hälfte – einlaufen und Rhythmus finden. Im Startfeld reihe ich mich ganz hinten ein. Um mich herum stehen zumindest noch einige Gestalten, die auch nicht gerade wie Top-Läufer aussehen. Eher wie Genussläufer, wie ich. Ich bin fürchterlich aufgeregt, aber jetzt nicht nur wegen der vielen Bedenken, sondern auch weil ich mich freue. Auf die Natur, den Wald, den See, die Weite und auf Strampeln mit allen Vieren. Der Tross setzt sich langsam in Gang. Zumindest hier hinten kommt erst einige Zeit nach dem Startschuss Bewegung in die Menge. Vorne sieht das bestimmt ganz anders aus, aber davon bekomme ich hier nichts mit. Hier reiht man sich nach und nach in den Spuren des Vordermannes ein und schiebt los. Es geht zuerst über den Burgávrre, einen See, es schneit leicht vor sich hin. Ich versuche, einen angenehmen Rhythmus zu finden und nicht daran zu denken, wie viele Kilometer vor mir liegen. Einfach die Landschaft und den Schnee genießen. Die parallelen Spuren vom Start vereinigen sich nach und nach zu einer einzigen, auf der jetzt über dreihundert Läufer wie an einer Perlenkette aufgereiht durch die Loipe schieben. Und ziemlich am Ende der Kette ich.
Hinter dem See ist die Spur auf den ersten dreißig Kilometern ziemlich zerfahren, das ist mühsam, die Ski gleiten nicht gut geradeaus. Wenn das so weitergeht, halte ich das nie im Leben durch! Später wird es zum Glück besser. Die Spur zieht sich scheinbar endlos kerzengerade auf einem breiten Weg durch den Wald. Aber hier ist sie fest und stabil. Die Perlenkette hat jetzt deutliche Lücken und zerfällt in einzelne Grüppchen. Auf der festen Spur finde ich einen gleichmäßigen Rhythmus und schiebe zufrieden vor mich hin. Immer mit Musik auf dem Ohr, ohne die läuft bei mir nichts. Wie so oft bei solchen Veranstaltungen, hängen sich ein, zwei Kerle hinter mich und bleiben über lange Strecken penetrant nah hinter mir. Ich laufe lieber für mich allein. Auch da hilft mir die Musik, mich abzulenken und mich von meinen Verfolgern nicht stören zu lassen. An den Verpflegungsstellen gibt es reichlich Getränke und Essen, an einigen größeren sogar warme Suppe. Ich verdrücke etliche Käsebrote und lasse nach 60 Kilometern auch die Ski nachwachsen. Ab und zu bin ich auf gleicher Höhe mit einer jungen Schwedin und wechsele ein paar Worte mit ihr. Als uns die Spitzenläufer entgegenkommen sagt sie, wir seien gut in der Zeit, die seien ihr letztes Jahr an der selben Stelle begegnet. Bei Kilometer 88 jubelt mir Ralf entgegen. Das war die erste Stelle auf der Strecke, in deren Nähe er mit dem PKW kommen konnte. Und auch hierher musste er von der Straße noch einige hundert Meter zu Fuß gehen. Nach diesem Motivationsschub geht es endlich auf das letzte lange Stück See vor dem Umkehrpunkt in Årrenjarka. Endlich auf dem Sakkat, auf den ich vor einem halben Jahr sehnsüchtig hinunter geschaut habe. Jetzt bin ich tatsächlich hier, bald 100 Kilometer unterwegs und kann es kaum glauben. Ich liebe diese offenen, weiten Passagen auf den Seen. Andere finden das langweilig, aber mir geht das Herz auf in dieser grandiosen Landschaft, wenn der Blick ganz weit geht und der Laufrhythmus fast meditativ wird.
Vor lauter Begeisterung werde ich etwas flotter. Auf nach Årrenjarka, ich bin gespannt, wie das im Winter aussieht. Im Sommer habe ich dort auf dem Steg gesessen und die Füße ins Wasser gestreckt. Jetzt steht vor Årrenjarka, bei Kilometer 100, ein Durchlauftor des Veranstalters. Und kurz dahinter wieder mein Liebster. An der großen Verpflegungsstelle mache ich eine längere Pause mit warmer Suppe, ich gehe sogar kurz ins Zelt. Dann schickt mich Ralf mit einem Kuss wieder auf die Strecke. Später erfahre ich, dass meine Mutter genau diesen Moment erwischt hat, als sie in die Webcam-Übertragung geschaut hat. Fast denke ich „Halbzeit“ und muss mich daran erinnern, dass das nicht stimmt. Wenn ich tatsächlich die nächsten 100 Kilometer zurück an den Start nach Purkijaur schaffe, muss ich noch 20 Kilometer weiter nach Jokkmokk. Halbzeit ist also erst in zehn Kilometern. Als ich die hinter mich gebracht habe, denke ich dann noch mal „Halbzeit“ und jetzt bin ich schon ein bisschen stolz darauf. Außerdem fällt mir hier auf, dass mir noch etliche Läufer entgegenkommen. Zumindest im Moment bin ich also noch lange nicht Letzte.
Die zweite Hälfte – eine lange Nacht
Bald darauf treffe ich Ralf wieder, kurz nach Kilometer 110, an der Verpflegung, die auf dem Hinweg Kilometer 88 entspricht. Hier verabschieden wir uns für lange Zeit. Die nächste Möglichkeit, uns zu sehen, ist am Start, also bei Kilometer 200! Und vor mir liegt eine lange Nacht. Als es beginnt zu dämmern, habe ich die junge Schwedin vor mir. Sie läuft gleichauf mit zwei Männern. Ich hänge mich eine Weile dran, sie haben schon die Stirnlampen an. Da kann ich ihnen gut folgen, ohne meine schon anschalten zu müssen. Besonders als es ein paar Abfahrten hinunter geht, bin ich froh darum, da wäre ich allein im Dunklen sonst viel ängstlicher und langsamer hinuntergefahren. Beim Gedanken an die Strecke, die noch vor mir liegt, setzt sich in meinem Kopf fest, dass alles gut wird, wenn ich die Kilometermarke 170 erreiche. Wenn ich da erst mal bin, dann sind es nur noch 50 Kilometer, die schaffe ich auf alle Fälle irgendwie! Gleichzeitig wird mir bewusst, wie absurd das eigentlich ist „nur 50 Kilometer…“ Trotzdem bleibt das als Zwischenziel fest in meinem Kopf. Später bin ich dann mutterseelenallein im Wald. Und entgegen meiner Befürchtung fühle ich mich pudelwohl. Es ist nicht gruselig, es ist eine Idylle! Ich laufe in diesem wundervollen Wald voller dünner Kiefern vor mich hin. Im Schein meiner treu funktionierenden Stirnlampe und es ist gar nicht unheimlich, sondern einfach nur schön! Mein MP-3-Player spielt ein beflügelndes Lied nach dem anderen und ich schwebe geradezu. Tom Petty singt „Love is a long, long road“. Das hier auch… Ab und zu sehe ich andere Stirnlampen in der Ferne. Manchen komme ich näher und rutsche vorbei, andere schieben an mir vorbei.
Später wird mir allerdings leicht übel und ein bisschen schummerig. Ich muss langsamer machen. Mist, das kenne ich nicht von mir, was ist das? Wenn das nicht besser wird, muss ich aufgeben. In mir steigt leichte Verzweiflung auf. Ich versuche, mich zu beruhigen. „Es wird schon wieder besser werden, mach‘ nur langsam und vorsichtig weiter.“ Ich muss an saure Gurken denken, ich habe das Gefühl, die würden mir jetzt gut tun. Bei Läufen in Finnland gibt es die oft. An der nächsten Verpflegung frage ich danach, leider haben sie keine und ich mache mich wieder auf den Weg. Ein Mann, der etwas weiter entfernt stand, hat das gehört und ruft „Doch, warte, ich habe welche!“ und reicht mir eine handvoll Gurkenscheibchen. Und die helfen tatsächlich, mir ist bald wieder deutlich wohler und ich laufe weiter, so glücklich wie zuvor. An der Verpflegungsstelle „Granudden“ habe ich einen Kleidersack hinterlegt, an dem ich mich jetzt bediene. Es wird deutlich kälter und ich brauche eine Schicht Hemd und Handschuhe mehr. Es kommt sogar ein Tuch auf meinen Kopf, das mache ich selten, ist jetzt aber nötig. Zum Glück hatte ich mich von vornherein schon etwas wärmer angezogen als üblich, in dem Wissen, dass ich deutlich langsamer sein würde. An der letzten Verpflegung vor Purkijaur nehme ich mir zehn Minuten Zeit, der freundliche Helfer empfiehlt mir Gel. Aber das habe ich noch nie genutzt und möchte jetzt nicht damit anfangen. Danach geht es wieder auf den See, jetzt wird es empfindlich kalt, weil Wind dazukommt. Es zieht sich ein bisschen, ich kann das beleuchtete Startgelände schon von Weitem ausmachen, aber ich komme nur sehr langsam näher. Es beginnt zu dämmern und kurz vor Kilometer 200 kann ich die Stirnlampe ausschalten.
Mein Liebster ruft mir laut entgegen, er klingt besorgt und ich wundere mich darüber. Er sagt, dass sogar meine Mutter schon voll Sorge bei ihm angerufen hat. Ich verstehe nur Bahnhof, bis er mir erklärt: Beide haben im Internet meinen Fortschritt verfolgt. Und mein Pünktchen ist offenbar bei der vorletzten Verpflegung stehen geblieben und hat sich seitdem nicht von der Stelle bewegt. Einige andere Pünktchen genauso. Da stimmte was mit der Übertragung nicht, das hing wohl mit der Umstellung auf die Sommerzeit zusammen. Ich bin nach den 200 Kilometern jetzt doch ziemlich k.o. und leiste mir zwanzig Minuten Pause im warmen Zelt mit Suppe und reichlich Saft. Psychologisch ist das schon ein bisschen fies, wenn man müde wieder am Startpunkt ankommt, aber dann noch zwanzig Kilometer weiter laufen soll. Aber aufgeben kommt jetzt nicht mehr in Frage! Also los, auf die letzte Etappe. Am Horizont leuchtet ein tief orangefarbenes Morgenrot. Nach wenigen hundert Metern muss ich aber schon wieder stehen bleiben. Ich huste ganz fürchterlich, offenbar bekommt mir der Wechsel aus dem warmen Zelt in die jetzt sehr kalte Morgenluft nicht. Langsam schlurfe ich weiter, bis zum nächsten Hustenanfall. Nach einiger Zeit werden die Hustenpausen weniger, aber ich komme nur noch sehr langsam voran. Jetzt bin ich doch schon ziemlich erschöpft. Der sanfte Anstieg, über den ich sonst nur müde lächeln würde, fordert mich. Ich lasse mir einfach Zeit und schlappe langsam hinauf. Meine ganz heimlich angedachte Wunschzeit habe ich sowieso schon um Stunden überschritten. Aber das darf ich getrost auf die Bedingungen schieben, der leichte, aber kontinuierliche Schneefall hat erst vor einer halben Stunde aufgehört. Jetzt geht es nur noch ums Ankommen, egal, ob es eine Stunde früher oder später wird. Nach dem langen Anstieg kommt noch ein Stück mit vielen Hügelchen und Kurven, dann erreiche ich das 5-km-Schild.
Das Ziel
Bald sehe ich die ersten Gebäude von Jokkmokk. Und höre wieder die laute, geliebte Stimme. Ralf kommt mir begeistert auf Skiern entgegen und begleitet mich auf den letzten Kilometern. Ich jammere ihm die Ohren voll und klage über jede weitere Kurve, die ich noch laufen muss. Er spricht mir gut zu und feuert mich an. Dann biege ich auf den letzten Kilometer ein, der in einem großen Bogen auf das Ziel zuführt. Auf den letzten Metern noch ein paar ziemlich kraftlose Doppelstockschübe. Dann bin ich tatsächlich im Ziel. Zum Arme hochreißen reicht die Kraft noch. Ich habe es tatsächlich geschafft! Ich kann es selbst kaum glauben. Glücklich falle ich meinem Liebsten in die Arme. Es sind sogar noch ein paar versprengte Zuschauer hier, die mich fotografieren. 220 Kilometer in 25 Stunden, 33 Minuten und 50 Sekunden. Die Zeit macht mich nicht glücklich, das Ankommen schon! In der Nachschau stelle ich fest, dass ich vorletzte bin: 14. Frau von 15, die ins Ziel gekommen sind. Am Start waren aber 41. Den folgenden Tag verbringe ich fast nur im Bett. Trotz der durchwachten Nacht kann ich lange nicht einschlafen. Das Herz klopft immer noch kräftig vor Erschöpfung und Glück. Dann versinke ich aber doch in einen tiefen Schlaf, unterbrochen von kurzen wachen Pausen, in denen ich esse. „Eat and sleep!“ diesen guten Rat befolge ich auch am Tag nach dem Lauf.
Infos zum Nordenskiöldsloppet findet ihr hier: www.nordenskioldsloppet.se