„Arrivederci in Livigno“ – So hatte ich das Ortsschild noch aus dem letzten Jahr im Kopf und beschloss, diesem Aufruf tatsächlich zu folgen. Und da der Schnee nicht zu mir kommt, reise ich dem Schnee eben hinterher, so einfach ist das. Einige Stunden bin ich – wie die meisten Teilnehmer der Sgambeda – unterwegs, bis ich das Hochtal Livignos auf über 1.800 Metern Höhe erreiche. Doch allein die Fahrt durch den Schweizerischen Nationalpark südöstlich von Zernez, macht den Aufwand wett. Als ich den Tunnel Munt la Schera hinter mir lasse, erstreckt sich der Livigno Stausee vor mir im strahlenden Sonnenlicht und zu allem Überfluss stehen zwei Gämsen am Straßenrand Spalier und schauen, als wollten sie sagen „Selbst schuld, wer sich das hier entgehen lässt…“
Traditioneller Lauf in neuem Gewand
Bereits zum 25. Mal findet die Sgambeda mit ihren verschiedenen Wettbewerben heuer statt. Und nicht zuletzt die Aufnahme des Klassikrennens in die Ski Classics-Serie stellt eine Neuheit dar. Im Unterschied zu den Vorjahren finden die Wettkämpfe in freier Technik schon am Freitag statt, während der Klassiklauf – als Sgambeda-Höhepunkt – auf den Sonntag gelegt worden ist. Die aktuelle Schneeknappheit, selbst in den Alpen, bringt auch die Helfer der Sgambeda vor den jeweiligen Wettkämpfen mächtig ins Schwitzen. Dank einer Menge Kunstschnee, der vor allem im Stadion die dünne Naturschneedecke verstärkt, finden wir Läufer aber gut präparierte Loipen vor. Die Klassikstrecke am Sonntag wird gegenüber den Vorjahren anspruchsvoller gestaltet: 35 Kilometer führen im Rundkurs einmal das Livigno-Tal hindurch bis zum Forcola-Passanstieg, den es auf schneeverwehter Spur bis auf über 2100 Meter hinauf zu erklimmen gilt. Ich beschließe, mir die Strecke einmal im Rahmen eines Trainingslaufs anzusehen, werde im Wettkampfgeschehen jedoch nur beim Skating-Lauf mitmischen, der wie gewohnt über 22,5 bzw. 42 Kilometer ausgetragen wird.
La Sgambeda – hartes Höhentraining über zwei Runden
Da ist sie wieder, die schlaflose Nacht vor dem Wettkampf. Ob es nun an der ungewohnten Höhe liegt, an der üblichen leichten Nervosität vor einem Lauf oder am späten Abendessen, ist mir in dem Moment eigentlich gleichgültig. Ich bin einfach glücklich als der Wecker endlich klingelt und ich den Wettkampftag in Angriff nehmen kann. Um zehn Uhr füllt sich das Stadion Livignos immer mehr. Aus allen Ecken trudeln die Topathleten und Hobbyläufer ein, sichern sich ihr Startplätzchen und mustern kritisch die Konkurrenz um sich herum. Über allen lacht die Sonne und lässt die kühlen Temperaturen gleich um einiges angenehmer erscheinen. Punkt elf ertönt der Startschuss und das Feld von rund 800 Teilnehmern setzt sich in Bewegung. Hinauf geht es den langgezogenen Starthang und der eine oder andere vermisst nach dem ersten Kilometer seine Stockspitze, die im Eifer des Gefechts zu Bruch gegangen ist. Bedauerlich, denke ich mir, und sause vorbei, froh, dass ich einmal mehr Glück hatte und mich mit vollem Stockeinsatz auf die 42 Kilometer-Strecke begeben kann. In den Bergab-Phasen stelle ich zufrieden fest, dass der Griff in die Wachskiste der Richtige war und an den kurzen Anstiegen merke ich, dass die Trainingseinheiten im Sommer scheinbar doch nicht für die Katz waren. Die Kurzatmigkeit einmal ausgeklammert, aber die lässt sich ja guten Gewissens auf die dünne Höhenluft schieben. „So kann es weitergehen“ denke ich mir und mache mich noch einigermaßen gut bei Kräften auf in die zweite Runde.
Deutsch-Französische Festspiele
Bei der Durchfahrt des Stadions schnappe ich ein paar Ergebnis-Durchsagen des Stadionsprechers auf und freue mich über den deutschen Dreifachsieg bei den Herren über die 22,5 Kilometer, angeführt durch Lucas Boegl. Der Starthang scheint inzwischen etwas länger geworden zu sein (melden die Oberschenkel säuerlich ans Gehirn) und um mich herum erscheint das Läuferfeld plötzlich sehr licht. Doch da habe ich schon jemanden gesichtet, in dessen Windschatten ich mich wieder durch das Livigno-Tal ein zweites Mal in Richtung Furcola-Pass „tragen“ lasse. Nach der Kehre am Talschluss hält er sich für meine Begriffe aber etwas zu lange am Verpflegungsstand auf („Mensch die Zeit läuft doch“) und so mache ich mich energisch auf die letzten zehn Kilometer, glücklicherweise mit leichtem Rückenwind und sanft abfallendem Gelände, abgesehen von einigen kurzen aber heftigen Anstiegen. Ich nehme an, dass ich noch einige Kilometer vor mir habe, als der Franzose Benoit Chauvet im Ziel bereits mit „felicitazione“ überhäuft wird, da er nach 1:32:11 Stunden als neuer Sieger der 25. Sgambeda-Ausgabe feststeht. Drei seiner Landsmänner laufen ebenfalls in die Top Ten. Einige Minuten später (für mich verbleiben immer noch ein paar Kilometer zu laufen) überquert wenig überraschend die Finnin Riitta-Liisa Roponen mit der Laufzeit von 1:40:42 Stunden die Ziellinie einmal mehr als Siegerin bei den Damen.
Ein gelungener Saisonstart
Inzwischen geht es für mich, unterstützt von den treuen Anfeuerungen der Zuschauer, ein letztes Mal den harten Anstieg im Stadionbereich hinauf, um dann mit Schwung und etwas Glück die Kurve aus Kunstschnee gut zu erwischen und die letzte Schleife in Richtung Taleingang noch hinter mich zu bringen. Der traditionelle Blick auf die Kirchenuhr Livignos zeigt mir, dass ich meine Zeit aus dem Vorjahr locker unterbieten kann. Dieser Motivationsschub überträgt sich durch die Arme bis in die noch vorhandenen Stockspitzen, und so gebe ich auf den letzten Metern noch einmal alles und erreiche das Ziel nach zwei Stunden und vier Minuten. Glücklich über den schönen Lauf und den 16. Platz bei den Damen, sehe ich mir am Nachmittag die Siegerehrung in der Pláza Plachéda an und genieße den Flair Livignos bei einem Stadtbummel. Die folgenden Tage nutze ich zu Höhentraining bei herrlichem Wetter und verfolge gespannt die Läufe der Kinder bei der Mini Sgambeda sowie den Klassiklauf über 35 Kilometer. Eindrucksvoll wird letztgenannter Wettkampf durch die Schweizerin Seraina Boner und bei den Herren durch eine Menge Norweger, angeführt durch Anders Aukland – inklusive seines beeindruckenden Doppelstockschubs – dominiert.
Voll schöner Erinnerungen und motiviert für die nächsten Rennen, mache ich mich sonntags auf die Heimreise. In Livigno war ich gewiss nicht zum letzten Mal und so meine ich das muntere „Arrivederci“ zur Verabschiedung auch tatsächlich wieder ehrlich …