Dann ist er da, der Renntag. Ich habe mal wieder schlecht geschlafen. Die Nervosität hat zwar in den letzten Jahren etwas nachgelassen, ist aber immer noch da vor jedem Wettkampf. 1,5 Stunden vor meinem Start mache ich mich auf den Weg. Gefrühstückt habe ich nicht allzu viel und kaue nun auf einem Riegel herum. Rund um das Startgelände ist schon ganz schön was los, wobei alles gelassen und in geregelten Bahnen abläuft. Ich begebe mich in meine Startbox und deponiere dort meine Ski und Stöcke. Dann geht’s noch schnell auf Toilette und ich liefere mein Gepäck fürs Ziel beim vorgesehen LKW ab. Zurück in der Box füllt sich diese langsam und ich verfolge die anderen Starts, die vor meinem erfolgen. Dann geht endlich unsere Box auf und wir laufen mit den Skiern in der Hand in Richtung Startlinie. Beeilen muss ich mich nicht. Ab Startbox 3 wird beim Marcialonga die Netto-Zeit gewertet. Die Zeit läuft also erst los, wenn ich die Startlinie überquere. Ohne großes Gedränge gelange ich so in den ersten Anstieg direkt nach dem Startgelände.
Ich bin ohne großes Aufwärmprogramm losgelaufen und so versuche ich langsam in Tritt zu kommen. Im Grätenschritt geht es in einer langen Schlange nach oben und dann hinein in die engen Gassen von Moena. Die ersten Kilometer sind mir von meiner Besichtigung am Vortag bekannt und so weiß ich bereits, was auf mich zukommt. Erst nach der Steigung Richtung Soraga wird das Gelände etwas leichter und es beginnt die sich lange ziehende Steigung nach Canazei. Einen Großteil des Wegs folgt die Strecke dem Flusslauf des Avisio und dem Radweg an seinem Ufer. Unterbrochen wird das Ganze nur von zwei, drei Rampen, die es zu erklimmen gilt. Dann ist Canazei erreicht und die Strecke wendet um das Cafe Adler mitten im Zentrum. Ich stelle meine verschiebbare Bindung auf „Speed“ und ab hier beginnt der spaßige Teil, zumindest wenn das Material passt. Das erste Gel habe ich mir bereits in Campitello in den Mund gedrückt und es beginnt zu wirken. Wer übrigens seine Verpflegung nicht mitschleppen will, der wird an den Verpflegungsstationen, die circa alle zehn Kilometer platziert sind, bestens versorgt.
Ich befinde mich nun auf dem 45 Kilometer langen und tendenziell leicht fallenden Abschnitt zwischen Canazei und Molina. Das heißt allerdings nicht, dass es hier keine Anstiege mehr zu bezwingen gibt. Insbesondere die Rampe bei Soraga, an der die Ski Classics Profis um Punkte für die Bergwertung kämpfen, hat es in sich. Und auch das wellige Gelände im Anschluss mit steiler Abfahrt hinein ins Zentrum von Moena fordert vollste Konzentration. Aber dann liegen die großen Herausforderungen hinter mir und ich passiere erneut das Startgelände auf dem Weg ins Val di Fiemme. Meine Ski laufen gut und ich kann immer mal wieder für längere Zeit in die Hocke gehen und meine Muskeln entspannen. Ein kleines Highlight folgt mit dem Durchlauf im Schanzenauslauf der WM-Anlage kurz vor Predazzo. Dort entdeckt mich Teamkollegin Franziska und feuert mich an. Sie hat beim Marcialonga Light über 43 Kilometer Platz zwei belegt und wartet hier auf die Siegerehrung. Frisch motiviert geht es für mich weiter hinein nach Predazzo.
Ganz hinein ins Zentrum führt die Strecke dieses Mal aber nicht. Sie bleibt eng am Ufer des Avisio und verlässt ihn erst am Ortsende in Richtung Ziano. Langsam gelange ich in mir bekanntes Terrain. Hier war ich schon in den vergangenen Jahren unterwegs. Immer wieder überhole ich andere Teilnehmer und wundere mich, wie gut es für mich läuft. Langsam rückt das WM-Stadion in Lago di Tesero näher, aber ich weiß, dass es kurz davor noch eine Steigung zu überwinden gilt. Die stellt heute aber kein Problem für mich dar und mit Speed erreiche ich schließlich mein zweites Wohnzimmer in Italien, die Austragungsstätte der Nordischen Ski-WM 2013. Zwei Schleifen lassen mich das flache Gelände vor den Tribünen genießen, dann folgt der Streckenabschnitt, den ich schon drei Mal während des „Rampa con i Campioni“, dem Hobbyrennen auf die Alpe Cermis gelaufen bin. Dorthin muss ich heute Gott sei Dank nicht abbiegen und schlängle mich stattdessen durch die Wälder bis nach Molina. Einen kurzen Blick konnte ich schon erhaschen auf die Cascata-Steigung, davor warten aber noch ein paar Kilometer.
In Molina herrscht Volksfeststimmung wie zuvor auch schon in Canazei und Moena. Die ersten Konkurrenten lassen hier bereits ihre Ski nachwachsen, ich warte noch mit dem Verstellen der Bindung. Langsam aber sicher machen sich die Kilometer bemerkbar und ich nehme noch ein fünftes Gel zu mir. Jetzt beginnt das große Finale. Circa einen Kilometer vor dem Fuß der Steigung stelle ich meine Bindung wieder in Grip-Position und laufe schon mal diagonal. Es folgt die letzte Straßenunterführung ehe es durch das Spalier der Wachs- und Verpflegungsstationen in die finale Steigung geht. 67 Kilometer liegen nun hinter mir. Da werden die letzten 150 Höhenmeter zur ultimativen Herausforderung. In kleinen Tippelschritten kämpfe ich mich nach oben, angefeuert von zahlreichen Zuschauern, die mich teilweise sogar mit meinem Namen ansprechen. Auch wenn ich nicht mehr allzu viel mitbekomme, aber diese Steigung ist trotz ihrer Brutalität der schönste Anstieg, den ich je gelaufen bin. In Serpentinen windet sie sich durch den schmalen Einschnitt, der von Cavalese hinunter nach Cascata abfällt. Es geht vorbei an hölzernen Geländern, lichten Baumreihen und schließlich durch die ersten Häuser des Hauptortes des Val di Fiemme.
Schließlich kommt der Torbogen in Sicht, der den letzten Kilometer anzeigt. Durch schmale Gassen verläuft dieser noch einmal auf- und abwärts im Wechsel, ehe die Zielgerade erreicht ist. Noch einmal gebe ich Gas und kann zwei Konkurrenten hinter mir lassen. Dann ist es geschafft und ich überquere glücklich und stolz die Ziellinie. Erst jetzt macht sich die Müdigkeit in Armen und Beinen so richtig bemerkbar. Langsam begebe ich mich auf den Weg aus dem Zielbereich. Am Ausgang erhalte ich die Finisher-Medaille, ein echt schönes Erinnerungsstück, das einen Ehrenplatz bekommt. Dann folgen die Zielverpflegung und die Ausgabe der Säcke mit dem Gepäck vom Start. Alles läuft flüssig und sehr professionell. Nur öffentliche Duschen gibt es in Zeiten von Corona nicht. Aber das ist halb so schlimm. Schnell mit einem nassen Handtuch abgerubbelt und wenig später sitze ich schon in einer der zahlreichen Pizzerien, wo ich die verlorenen Kalorien wieder wettmache. Dabei denke ich zurück an die vergangenen Stunden und das Grinsen kehrt zurück in mein Gesicht.
Wer hätte vor elf Tagen gedacht, dass ich heute hier als Finisher des Marcialonga sitze und absolut mit mir zufrieden bin? Was für ein Erlebnis!