In Sagudden lasse ich meine Skier nachwachsen und nehme dafür auch eine Wartezeit von etwa zehn Minuten in Kauf. Essen und Trinken, Fachsimpeln, ein kurzer Anruf bei den Lieben daheim, ein kleines Fotoshooting – langweilig wird es nicht. Mit frischem Grip unter den Füßen lassen sich die nächsten der insgesamt knapp 2000 Höhenmeter dann gut meistern. Trotzdem zieht es sich jetzt ganz schön hin, ehe die alle zehn Kilometer aufgestellten Schilder endlich anzeigen, dass die Hälfte der Strecke absolviert ist. So langsam bestätigt sich, was vorher wohl jeder Teilnehmer geahnt hat: Die zweiten 100 Kilometer werden eine echte Herausforderung.
20 Kilometer weiter nehme ich mir dann beim zweiten Zwischenstopp in Granudden wieder bewusst Zeit für die Verpflegung, bei der die Schweden von Energy-Gel und -Riegeln über Bananen, Sportdrink und Kaffee bis zu deftigen Sachen wie Käsebroten und Bouillon aus meiner Sicht keine Wünsche offen lassen. Die zwei, drei Minuten am windigen See-Ufer bringen mich allerdings mächtig ins Bibbern. So lasse ich mich dazu verleiten, mich nach dem Gang aufs Dixie-Klo kurz in einer beheizten Hütte aufzuwärmen. Eine sinnlose Aktion: Als ich nach fünf Minuten wieder rauskomme, fühlt es sich eher noch kälter an. Insofern sehe ich aber zumindest meinen Plan bestätigt, in Randijaur nicht nur die Stirnlampe, sondern auch dickere Sachen für die letzten 60 Kilometer zu deponieren.
Von der heimlich erhofften Zielzeit um die 16 Stunden habe ich mich da längst verabschiedet. Aber die 18 Stunden sind nach wie vor machbar. Weiter, weiter, immer weiter – geht es mir durch den Kopf. Noch 50 Kilometer. Es wären sogar noch 70, wenn wir die Originalstrecke laufen müssten – ein Wahnsinn! Irgendwann deutet sich im Dunkel der hereinbrechenden Nacht der drittletzte Checkpoint an. Die kleinen Feuerchen am Wegesrand sorgen für eine Idylle, die so überhaupt nicht zu meinem Gemütszustand passt. Denn mein Magen spielt nicht mehr mit. Allein der Anblick der Gels oder auch der Brühe löst schon Brechreiz aus. Ich bekomme nur ein paar Schlucke Blaubeersuppe runter und fahre weiter. Die 35 Kilometer müssen jetzt auch so gehen.
Das erste richtige Tief lässt in dieser Konstellation nicht lange auf sich warten. Auf dem zugefrorenen See bei Purkijaur reichen auch die vier Schichten Klamotten nicht, um den rapide abbauenden Körper vor der Kälte zu schützen. Bei inzwischen wieder minus acht Grad, die sich deutlich eisiger anfühlen, bin ich mir nicht sicher, ob ich im Schieben zittere oder im Zittern schiebe. Hauptsache ich komme voran. Im beheizten Zelt am Startort Purkijaur wird es wieder nur ein Becher Blaubeersuppe, den ich mir reinquälen kann. Es sind sicher nicht die besten Voraussetzungen für die letzten 20 Kilometer bis ins Ziel nach Jokkmokk. Aber letztlich vertraue ich darauf, dass ich mich nach dem Plan von Thomas Freimuth, der selbst bei der Erstauflage des Nordenskiöldsloppet 2016 starker Achter wurde, auf das Abenteuer am Polarkreis vorbereitet habe. Die Zeit beim Vasaloppet kam ja auch nicht von ungefähr.
Dass ich zwei anderen Läufern dann eine ganze Weile folgen kann, ist gut für die Psyche. Dann heißt es, im Alleingang konzentriert zu bleiben, um im Licht der Stirnlampe keinen Abbiegepfeil zu verpassen und in den teilweise tückischen Abfahrten nicht zu stürzen. Als ich fünf Kilometer vor dem Ziel selbst einen Läufer überhole, der gar nicht erst Anstalten macht, mein Tempo aufzunehmen, werde ich schon fast euphorisch. Doch der nächste Anstieg folgt prompt. So fahre ich wenig später nicht nur völlig kraftlos, sondern genauso emotionslos über die Ziellinie. Angekommen!
Die letzten der 440 Finisher laufen am nächsten Morgen direkt an unserem Hotel vorbei, als wir beim Frühstücken sind. Der Veranstalter hat das Zeitlimit aufgrund der Streckenverkürzung von 30 auf 28,5 Stunden runtergesetzt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, sich die gesamte Nacht durch die Kälte und die Dunkelheit zu quälen. Insofern ziehe ich vor den Letzten mindestens genauso den Hut wie vor den Ersten. Für mich selbst steht an diesem Morgen ohnehin fest, dass man sich dieses harte Rennen kein zweites Mal antun muss. Aber das ist ja der Klassiker. Vom „Einmal und nie wieder!“ bis zum „Warum eigentlich nicht?“ sind es dann auch keine 48 Stunden. Erstens weiß ich jetzt, was auf mich zukommt. Zweitens hätte ich doch ganz gerne ein Foto, wie ich jubelnd in Jokkmokk ins Ziel fahre. Und außerdem waren es dieses Jahr ja nicht die kompletten 220 Kilometer…