Ich sitze auf der Terrasse des „Woods“. Über mir scheint die Sonne, unter mir glitzert der Schnee und zwischen Sport Norz und dem Seekircherl herrscht die für Seefeld so typische Betriebsamkeit. Winterwanderer und Schlittenfahrer links am Weg, Langläufer aller Art auf den Loipen daneben. Irgendwo zwischen den hundert anderen Paar stehen auch meine Ski, noch etwas nass von der Rückkehr aus dem Langlaufstadion. Es ist Vor-WM, der letzte Weltcup vor den nordischen Weltmeisterschaften und die ersten Rennen sind gerade erst vorbei und schon jetzt ist zu erahnen, welches Fest da in einem Jahr gefeiert werden wird. Zeit, sich auch mal mit der Vergangenheit zu befassen.
Ja, ich gehöre zu den Glücklichen, die schon einige (winter-)sportliche Großereignisse miterleben durften. Die Geschichten führen zurück bis ins Jahr 1996 und den Biathlon-Weltmeisterschaften in Ruhpolding. Damals selbst noch junger, aktiver (nicht teilnehmender!) Athlet, war selbst die im heutigen Vergleich beschauliche Anlage und der Rummel drum herum quasi gigantischen Ausmaßes. In dieser guten alten Zeit vor über 20 Jahren gab es, so mich die Erinnerung nicht trügt, sogar noch Parkplätze direkt am Stadion. Ein fast schon familiäres Event war das rückblickend, mit reichlich Nähe zu den Strecken und Athleten. Doch die Zeiten ändern sich.
Während sich für mich beruflich alles dahingehend entwickelte als professioneller Teil des Skizirkus mit um die Welt zu reisen, erwuchs aus der Beschaulichkeit der späten 90er mehr und mehr das Flair von Großevents. Die Stadien wuchsen, die Strecken wurden breiter, Zuschauer mussten zurückweichen, hinter Absperrungen, Werbebanden und Übertragungstechnik. Ob Olympia in Vancouver und Sotschi mit ihrem gigantischen Sicherheits- und Transportaufwand zu Strecken im sportlichen Nirgendwo oder die unpersönlichsten Weltmeisterschaften überhaupt, damals 2009 im inzwischen zum Olympiaort erhobenen Pyoengchang: alles war sportlich spannend, doch irgendwie klinisch kühl, wie in sich geschlossene Fernsehstudios ohne Zentralheizung. Nach Drehschluss entschwanden die Athleten in die eine Richtung, die Zuschauer in die andere und wir Medienschaffende wiederum hatten auch eine eigene Buslinie.
Ob ich bei jenen Events je einen Sportler abseits der Strecken getroffen habe? Ich könnte mich nicht erinnern. Unter mir, gleich am Loipeneinstieg, so viel steht fest, ziehen sich gerade die deutschen Langläufer die Ski an und begeben sich zum Auslaufen auf eben jene Loipe, die auch mich heute Morgen zum Stadion führte. Keine fünf Minuten dauert es von hier aus auf Ski zu Skisprung- und Langlaufarena, das schafft kein Auto schneller vom Seefelder Zentrum aus. Und so vermischte sich schon am Morgen ein buntes Völkchen aus Zuschauern, zuschauenden Langläufern, Athleten und Betreuern auf dem Weg nach „draußen“. Während der Wettkämpfe standen die Zuschauer nah genug an der finalen Abfahrt, um bei jedem Durchlauf vom Luftzug der Athleten überrascht zu werden. Wer sich hier umhörte fand die unterschiedlichsten Typen an der Strecke. Da war Bernhard, der extra wegen diesem Erlebnis aus Stuttgart angereist war und sich kaum vorstellen konnte, dass hier jeder auf Augenhöhe der Sportler stehen kann. Vorsichtig gesagt: Fußballstadien sind eben anders konstruiert. Oder könnte man sich vorstellen, dass der Hobby-Fußballer nach einem kurzen Spiel zufällig am Bundesliga-Stadion vorbei kommt und spontan stehen bleibt? Für Stefanie und ihren Mann lief es jedenfalls so. Eigentlich waren die beiden zum Langlaufen angereist und stellten dann erfreut fest, dass auf ihrer Lieblingsrunde demnächst Weltmeisterschaften stattfinden werden. So wurde die Langlauftour spontan unterbrochen und die Stars angefeuert. Allein waren die beiden nicht mit ihrer Entscheidung: nur wenige Meter dahinter steckten in langen Reihen Langlaufski im Schnee und während ihre Besitzer an der Strecke standen. Gab es das schon mal bei einem Weltmeisterschaftsort? Jedenfalls nicht in diesem Jahrtausend.
Nun waren nicht alle Austragungsorte der Vergangenheit stimmungsmäßig unterkühlt. Gerne denke ich zurück an die Jahre in Skandinavien, an Lahti und Falun, als rauschende Feste gefeiert wurden, oder an Val di Fiemme, mit italienischer Ausgelassenheit zu Zeiten, als es in Italien noch eine bärenstarke Nationalmannschaft gab. Im Süden wie im Norden fanden packende Wettkämpfe vor großer Kulisse statt, doch im Hintergrund stockte es so manches Mal. Die touristischen wie auch verkehrstechnischen Kapazitäten kamen hier schnell an ihre Grenzen. Was zuvor noch als Freiluft-Party begann, verlor sich bis zur offiziellen Siegerehrung gerne einmal bei dem Versuch zwischendurch im Hotel zu verweilen oder einfach nur das richtige Shuttle zu erwischen. Ein Problem, das sich in Seefeld mit seinen fast 15000 Gästebetten in unmittelbarer Nähe zum Stadion bereits jetzt erübrigt. Hotels aller Kategorien, Privatpensionen und Ferienwohnungen stehen für Fans und Athleten zu Verfügung, dazu ein ausgefeiltes Transportsystem vor Ort. Im Idealfall reichen die eigenen Ski.
Während mir die Bedienung das erste Bier des Tages serviert (ja, die Sonne steht schon etwas tiefer), versammeln sich unter mir die Fans, die sich fürs Kombi-Skispringen interessieren. Nach einer kurzen Pause in einem der zahlreichen Restaurants, oder eben mit ausreichend Desinteresse am Speziallanglauf gesegnet, beginnt nun die Stunde der vornehmlich deutschen Schlachtenbummler und Fans von Eric Frenzel und Kollegen. Scheinbar ganze Busladungen voll haben die schnelle Anfahrt aus Deutschland für einen Kurztrip genutzt um ihre Helden live zu sehen. München liegt keine zwei Fahrstunden entfernt, ebenso die Schweizer Grenze oder die deutschen nordischen Hochburgen im Allgäu und im Chiemgau. Innsbruck liegt quasi ums Eck, dessen internationaler Flughafen sogar noch näher. Leichter war es selten, eine nordische Weltmeisterschaft zu erreichen. Da waren Fangruppen aus dem Erzgebirge, die sich für einen spontanen Ausflug gerade mal einen Tag in Seefeld aufhielten, bunt durchmischt mit denjenigen, die schon vor einem Jahr dieses Wochenende mit dem Seefeld-Triple gebucht haben. Und natürlich die professionellen Schlachtenbummler wie Agnes, die so ziemlichen jeden Austragungsort eines „Noko-Weltcups“ schon gesehen hat, sich jedoch immer wieder ganz besonders auf Seefeld freut. Näher ran an die Sportler kommt man sonst nirgends erklärte sie mir glaubhaft. Wenn im Sprungstadion die Athleten zum Lift gehen oder im Langlaufstadion das Ziel verlassen ist abklatschen angesagt. Sportler in Reichweite einer Armlänge, selbst für Kinder.
Während sich die einen nun aufmachen das Stadion zu füllen haben die Langläufer gerade ihr Cool-Down absolviert und verlassen fast unbemerkt die Langlaufarena. Ihre Runde, so wissen sie zu berichten, führte über die künftige Klassik-Schleife der WM-Strecke, was dann viel über die Veranlagung dieser Strecke aussagt. Oder hörte man schon einmal davon, dass der Mördarbakken in Falun zum Auslaufen genutzt wurde? In Seefeld jedenfalls sind die Loipen technisch anspruchsvoll, doch jederzeit für geübte Langläufer laufbar. Weitergedacht haben hier die Streckenbauer, die im beengten Tal hoch droben über Innsbruck nicht noch eine künstliche Einweg-Trasse in den Wald schlagen wollten. Schon am Tag nach den jeweils letzten Wettkämpfen werden die Loipen wieder für Jedermann benutzbar sein, was die Nähe zum Athleten auf die Spitze treiben wird. Ich kann mich jedenfalls an keinen Austragungsort erinnern, bei dem ich mich bei der nachmittäglichen Runde wie zufällig unter das US Ski Team mischen konnte. Zumindest bis zu ersten Anstieg. Während nun also vor mir Jessie Diggins und ihre Kollegen in der Ferne verschwinden und hinter mir die Sonne langsam untergeht steigt die Vorfreude auf eine Weltmeisterschaft, bei der sich die Nähe zwischen Topathlet und Sportfan aus der gemeinsamen Leidenschaft für Wintersport wie von selbst ergeben wird. Lange dauert es zum Glück nicht mehr.