Svalbard-Ski-Marathon: Der Kampf gegen den inneren Schweinehund im Reich der Eisbären

Endlos lange Anstiege © Thorsten Kutschke

 Svalbard SkimarathonGut 200 Wagemutige stehen am nächsten Morgen mit uns auf der einer großen, schneebedeckten Wiese. Start- und Ziel-Bogen werden gerade erst provisorisch in den gefrorenen Boden gehämmert, jeder Teilnehmer wird namentlich begrüßt und muss mittels Handzeichen aus dem Startgarten anzeigen, dass er tatsächlich anwesend und gewillt ist, auf die Strecke zu gehen. Es wird akribisch durchgezählt, damit in der weißen Einsamkeit auch ja keiner verloren geht! Wie früher im Schulsport – das sorgt für Amüsement und gute Laune im Pulk der wartenden Skiläufer.

Startschuss! Sofort fliegt das Feld auseinander… Die ersten 11 Kilometer, ein stetig lang gezogenes Bergauf. Schnell bilden sich Mini-Grüppchen: 3, 4 oder 5 Läufer, die ungefähr im gleichen Takt und Tempo mit langem Diagonalschritt dem Pass entgegen laufen. Knapp zwei Monate vorher hatte ich den Vasaloppet in sechseinhalb Stunden bewältigt, doch hier: Kein Vergleich mit der flotten Schieberei über die zugefrorenen Seen im schwedischen Dalarna. Hier fällt jeder Schritt im knirschenden und reifüberzogenen Schnee schwer, der lange Anstieg kostet schon verdammt viele Körner. Auch Lutz Reichel, passionierter Triathlet, Marathonläufer und bärenstarker Ski-Marathoni aus der Nähe von Dresden, schimpft: „So was Stumpfes hatte ich noch nie unter den Füßen!“ – „Egal!“, lache ich, „dann ist das schöne Abenteuer hier wenigstens nicht so schnell zu Ende!“

Oben am Pass gibt’s Verpflegung: Heißen Tee, Apfelsinen, Schokolade. Vor uns öffnet sich ein langes breites Tal, in der Ferne kann ich – stecknadelgroß nur – die Spitzenreiter erkennen. Endlich bergab jetzt! Doch die Vorfreude weicht schlagartig jähem Entsetzen. In der sanft abschüssigen Loipe ist nix mit Abfahrtshocke und „laufen lassen“… träge und scheinbar wiederwillig kriechen die Bretter dahin. Es ist, als hätte man Leim unter der Sohle. Selbst im kräftigen Doppelstockschub geht es nur mühsam talwärts… Immer weiter reißt das Feld auseinander, spätestens bei Kilometer 15 ist hier fast jeder ein Einzelkämpfer. Als ich den Wendepunkt im Tal erreiche, bin ich schon fix und fertig. „Jetzt bloß keine schlechte Laune bekommen“, trichter ich mir selbst immer wieder ein. Stattdessen lieber den Blick schweifen lassen in diese unermessliche Unendlichkeit – und am Wegesrand einfach mal ein kurzes Schwätzchen halten mit den Herrschaften der „Eisbären-Wacht“. Aller 2 km steht ein Schneescooter an der Strecke, mit Personal in neongelber Leuchtweste und einem Schießeisen griffbereit, wie auch wir es bei unserem Erkundungs-Gang samt Großkaliber-Munition auf dem Buckel hatten. Ob es denn beim Skimarathon schon Zwischenfälle mit Eisbären gegeben habe, will ich wissen, während ich mir mühsam einen Power-Riegel einverleibe. Der „Isbjoern“-Wächter schüttelt lachend den Kopf und beruhigt mich: „Nein. Aber Gesetz ist Gesetz. Und sicher ist eben sicher!“ – Auch ich muss lachen: So leer gepumpt und matschig, wie ich mich auf meinen schmalen Brettern heute fühle, wäre ich bestimmt keine lohnende, sprich: leckere – Frühstücksbeute.

Beim neuerlichen Aufstieg zurück in Richtung Passhöhe ist an Doppelstock-Einsatz schon gar nicht mehr zu denken, brav und bescheiden ackere ich mich im Diagonalschritt wieder in Richtung Pass-Höhe. Tröstlich allenthalben, dass da manche(r) noch mehr leidet und freundlich aus der Spur tritt, wenn ich überhole. Froh, mal eine Verschnaufpause zu haben. Auch die Kälte zehrt aus, herzerwärmend dafür die unvergesslichen Fernblicke ins scheinbar ewige Weiß. Diese fantastische Kulisse allein ist die Quälerei wert!!! In diesen Momenten drückt auch der Rucksack nicht mehr ganz so schwer, den hier jeder Teilnehmer obligatorisch mit mindestens 3 Kilogramm Verpflegung und warmen Sachen mit durch die Loipe schleppen muss.

Nach 3 Stunden und 55 Minuten schiebe ich mich mehr schlecht als recht durch den kleinen Torbogen mit der Aufschrift „Mal“, das Ziel! Die Zeit ist mir längst völlig schnuppe, der Körper ist ausgelaugt, aber die Seele jubelt! Durchgehalten, angekommen und das Erlebnis einer traumhaften Landschaft selbst Schritt für Schritt mit eigener Kraft erarbeitet! Das ist es, was hier zählt! Der Vollständigkeit halber dennoch studiere ich die Zettelwirtschaft an der Holztafel mit den Resultate: Der schnellste Herr hat ganze 2:01 Sunden für den stumpfen Track benötigt, die schnellste Dame 2:27 Stunden. Ob die auch einen Blick hatten für´s grandiose Panorama?

Das abendliche Bier im einzigen Pub der Stadt mit dem (irreführenden!) Namen „Cafe Busen“ könnte köstlicher nicht schmecken! Draußen vor dem Fenster strahlt die Mitternachts-Sonne und vertreibt unsere Müdigkeit – schlafen können wir auf der langen Heimreise noch genug. Unsere Zeit ist hier oben nach 4 Tagen leider viel zu schnell vorbei: Ein letzter sehnsüchtiger Blick aus dem Flugzeug-Fenster: Wie eine weiße Fata Morgana entschwinden die weißen Inseln am Horizont des Polarmeers – und ich spüre innerlich schon die Gewissheit: Ich komme wieder! Dann ganz bestimmt mit der Tourenski-Ausrüstung im Gepäck, um die Faszination der Arktis in den menschenleeren Tälern von Spitzbergen noch authentischer und noch intensiver zu erleben! Gern bitteschön auch dann wieder ohne eine leibhaftige Begegnung mit dem „König der Arktis“!

Infos unter:
www.longyearbyen-camping.com
svalbardturn.no/index.php?id=135
Reiseveranstalter: z.B. „Schulz-Aktiv-Reisen“ Dresden, www.schulz-aktiv-reisen.de
Termin für 2013: 27. April

Der Autor:

Thorsten Kutschke (42) lebt und arbeitet als freiberuflicher Journalist und Filmemacher in Dresden. Er moderiert u.a. das Bergsteiger-Magazin „Biwak“ im MDR-Fernsehen und berichtet seit mehr als einem Jahrzehnt über den internationalen Ski-Zirkus. In eigener Regie verantwortet er die Berg-Film-Edition „Traumtouren-Film“ (im Internet unter www.traumtouren-film.de)