6:17 h statt 7:37 h und Platz 2461 statt 5508 – allein die nackten Zahlen lassen erahnen, warum ich bei meinem zweiten Start beim Vasaloppet nach 2014 am Sonntag mit einem breiten Grinsen im Gesicht in Mora über die Ziellinie gefahren bin. Die begehrte Medaille, die für mich vor vier Jahren noch unerreichbar erschien, gab es als Krönung obendrauf. Ich kenne viele, die eben dieser Medaille jahrelang vergeblich hinterher gerannt sind und habe im Ziel vor Freude geheult wie ein kleiner Junge. Keine Frage: Das war mein ganz persönlicher Wahnsinn Wasalauf!
Der hatte in aller Frühe mit einer Überraschung begonnen: Denn obwohl unser Bus von Schulz Sportreisen schon kurz vor 5 Uhr auf dem Parkplatz direkt neben der Startwiese in Sälen/Berga by einparkte, waren wir bei weitem nicht die Ersten. An die 200 Läufer standen bei minus 10 Grad schon vor uns am Startblock 3 in der Schlange, um ab 5.30 Uhr die Skier so weit wie möglich vorne in einer der 52 Spuren zu platzieren. Als ich später meine Bretter ablegte und nur wenige Meter entfernt das Startbanner der Elite erkannte, das ich bei meiner Premiere aus Gruppe 7 nur erahnen konnte, wurde es mir heiß und kalt zugleich. Bin ich so weit vorne richtig aufgehoben oder werde ich über den Haufen gerannt? Dabei gab es für die Zweifel gar keinen Grund. Zum einen war ich die 2:28 h für 44 km beim König-Ludwig-Lauf in Oberammergau, mit denen ich in Startgruppe 3 kam, mit einem guten Gefühl gelaufen. Und vor allem hatte ich mir in der Vorbereitung auf meinen zweiten Vasa fachmännische Hilfe genommen. Ich gebe zu: Nur wenige Jahre zuvor hätte ich es für völlig übertrieben angesehen, sich als Hobbysportler einen persönlichen Trainingsplan erstellen zu lassen. Doch nachdem ich mich zwei Sommer lang ohne Erfolg an einer Marathonzeit von unter 3:45 h versuchte, wollte ich für Schweden auf Nummer sicher gehen, was eine Zeit unter 7 h anbetrifft. Und da mit Thomas Freimuth vom Ausdauernetzwerk München, der selbst mehrfach bester Deutscher beim Vasaloppet war, auf Anhieb die Chemie stimmte, ließ ich mich ab Mai 2017 darauf ein.
So entdeckte ich plötzlich Spaß an langen Mountain-Bike-Touren, verlor mit der Zeit die Angst vor Rollereinheiten von 30/40 Kilometern und hatte irgendwann auch kein Problem mehr mit den ungläubigen Blicken von Wanderern, wenn ich mit Skistöcken in der Hand im Wald immer wieder den gleichen Berg hinauf rannte. Das abwechslungsreiche Training machte irgendwann so viel Spaß, dass ich oft erst am Sonntag am Computer feststellte, wenn ich mal wieder acht Stunden in der Woche trainiert hatte. Bis dahin waren es maximal immer fünf. Dabei verstand es Thomas immer wieder, mich mit seinen lockeren Hinweisen wahlweise voranzutreiben („heute kann es nicht hart genug sein“) oder auch mal zu bremsen („heute kannst du gefühlt spazieren gehen“). Dazu kam freilich auch, dass ich zehn Monate ohne gesundheitliche Ausfälle das Training durchziehen konnte. Das alles ging mir nochmal durch den Kopf, als ich am Sonntagfrüh im warmen Bus saß und darauf wartete, dass endlich der Start (8 Uhr) näher rückt. Alle fünf Minuten kontrollierte ich vor Aufregung den festen Sitz des Zeitnahme-Chips am rechten Fuß. Der leichte Schneefall trug dabei nicht unbedingt zu meiner Beruhigung bei. Zwar hatte ich meine Skier dem Wachs-Experten unseres Reiseveranstalters anvertraut, aber ob der auch so viel Neuschnee für den Wettkampftag auf dem Schirm hatte? So hielten sich Anspannung und Vorfreude die Waage, als ich kurz vor 8 startbereit in der Spur stand. Der Plan war klar: Mit einem Durchschnitt von etwa 15 Kilometern pro Stunde wollte ich bei etwa 6 Stunden rauskommen.
Am Start ging es gleich richtig zur Sache und ehe ich mich versah, musste ich eine kleine Lücke nach vorn reißen lassen. Jetzt war ich endgültig munter und sofort im Rennmodus drin. Am legendären Berg nach einem Kilometer nahm ich mir den Tipp meines Hütten-Mitbewohners zu Herzen, der schon siebenmal erfolgreich den Vasa gefinisht hatte. Ich hielt die Stöcke im dichten Gedränge direkt am Körper, um so die Gefahr zu minimieren, dass sie mir jemand kaputt tritt. Das ging schon mal auf, sodass ich mit einem guten Gefühl auf der Hochebene nach etwa vier Kilometern ankam. Es gibt ja nicht wenige, die sagen, hier geht der Wasalauf erst richtig los. Für mich allerdings gingen die Probleme los. Irgendwie fand ich nicht in meinen Rhythmus. Immer wieder musste ich zu meinem Vordermann abreißen lassen oder fuhr in der Abfahrt hinterher. Erst der Blick auf die Uhr an der ersten Verpflegungsstelle in Smagan zeigte mir, dass eigentlich alles im grünen Bereich ist. Auf den nächsten zwei Streckenabschnitten bis Risberg näherte ich mich dank der ersten längeren Abfahrten zwar meinem Wunsch-Durchschnitt. Allerdings beunruhigte mich, dass schon nach 20 Kilometern die Arme schmerzten. Das kann ja heiter werden. So passierte ich später die 45-km-Marke nach knapp über drei Stunden und lag damit mehr oder weniger im Plan. Doch ich hatte von meinem ersten Start noch genau in Erinnerung, wie lang sich die zweite Hälfte des Rennen hinziehen kann. Hatte ich mich vielleicht doch zu einem zu hohen Anfangstempo verleiten lassen? Als ich kurz nach Evertsberg plötzlich nur noch 4000-er Startnummern um mich herum sah, die also aus dem Block hinter mir gestartet waren, spielte plötzlich der Kopf verrückt. Jeder noch so kleine Anstieg in Richtung Oxberg wurde zur Qual und ich schrieb die sechs Stunden und die Medaille innerlich schon ab. Ich lief immer öfter im Diagonalschritt statt zu schieben, fror in den Abfahrten, konnte mit schmerzenden Bauchmuskeln gar nicht richtig in die Hocke gehen und trottete schließlich nur noch mit verbissenem Gesichtsausdruck mit der Masse mit.
Erst der Streckensprecher in Oxberg weckte meine Lebensgeister wieder. Ich ackerte mich dort nach etwa 4:10 h durch und interpretierte das, was ich da auf schwedisch („dramatisk“) mitbekam, in jedem Falle so, dass die Elite noch nicht im Ziel war. In dem Moment bedurfte es keiner großen Rechenkünste für die Erkenntnis, dass diesmal auch eine Zeit um die 6:15 h für die Medaille reichen würde. Die bekommt ja bekanntlich jeder, der nicht mehr als 50 Prozent über der Siegerzeit bleibt. Und siehe da: Mit einem Mal war wieder Kraft und vor allem auch der Wille. Jetzt war ich es, der immer mal wieder überholte und in den Abfahrten davonfuhr. An der nächsten Station in Hökberg hatte ich dann nicht nur 90 Plätze gut gemacht. Es gab auch die Bestätigung, dass ich tatsächlich auf dem Weg zur Medaille war. Das handgeschriebene Schild mit der Siegerzeit von Andreas Nygaard aus Norwegen (4:24 h) und der für die Medaille nötigen 6:36 h war zwar recht klein, aber nicht zu übersehen. Erst in dem Moment begriff ich richtig, dass sich an diesem Tag in der stumpfen Spur alle etwas schwerer tun als sonst. Schließlich hatte 2007 zum letzten Mal ein Vasaloppet-Sieger mehr als 4:15 h für die 90 Kilometer von Sälen nach Mora gebraucht. Ich schwor mir: Diese Chance auf die Medaille, mit der ich einige Wochen zuvor noch nicht einmal richtig geliebäugelt hatte, lasse ich mir nicht mehr nehmen. Ich schaltete einen Gang zurück und legte mir einen Plan für die letzten 18 Kilometer zurecht. Mit fünf Minuten pro Kilometer, die angesichts der flachen und teilweise abschüssigen Strecke kein Problem sein dürften, würde ich unter 6:30 h bleiben und hätte damit sogar noch etwas Puffer.
Ich will jetzt nicht behaupten, dass die Kilometer bis Mora in der Folge an mir vorbei flogen. Jeder blieb harte Arbeit. Doch als ich 5 Kilometer vor dem Ziel einem in der Abfahrt unmittelbar vor mir gestürzten Läufer ausweichen und mich kurz darauf auch aus einer Kollision heraushalten konnte, bei der ein Läufer seinen Stock einbüßte, waren die letzten Hürden genommen. Dass ich bis ins Ziel fast 200 Plätze einbüßte, konnte meine Freude über die für einen Hobbysportler recht anständige Zeit nicht trüben. Im Gegenteil: Ich genoss das Flair auf der Zielgeraden und hatte diesmal auch noch Kraft für eine richtige Jubelpose. Jaaaaa!
Monty Gräßler (Jahrgang 1972) ist Lokalsportredakteur bei der „Freien Presse“ im Vogtland und begeisterter Hobby-Skilangläufer. Mit „Wahnsinn Wasalauf“ hat er das erste deutschsprachige Buch über den legendären Vasaloppet in Schweden geschrieben. Es sind aber längst noch nicht alle „Wasalauf-Geschichten“ erzählt und kommen stets neue hinzu. Eine Auswahl davon gibt es regelmäßig in dieser Kolumne. Mehr zum Buch und eine Bestellmöglichkeit findet ihr hier: www.wahnsinn-wasalauf.de