Die beiden Schweizer Langläuferinnen Laurien van der Graaff und Nadine Fähndrich reden nach ihrem WM-Silber im Teamsprint von Oberstdorf im Interview mit Peter Birrer über bleibende Erinnerungen, den Umgang miteinander und forsche Zielsetzungen.
Wie würdet ihr euch gegenseitig in drei Adjektiven beschreiben?
Laurien van der Graaff: Nadine ist sehr ehrlich, organisiert und powerful.
Nadine Fähndrich: Sehr hilfsbereit, motivierend und offen – das kommt mir spontan zu Laurien in den Sinn.
Zusammen habt ihr Ende Februar WM-Silber im Teamsprint gewonnen. Wie blickt ihr mit einigen Wochen Distanz darauf zurück?
van der Graaff: Es lief ziemlich genau so, wie wir uns das vorgestellt hatten. Ich war derart fokussiert und im Tunnel, dass ich während des Rennens gar nicht realisierte, dass rundherum einiges passierte – Stürze, Athletinnen, die sich in die Quere kamen. Und ich kam glatt durch.
Fähndrich: Eine Analyse kurz nach dem Wettkampf ist für mich wichtig, weil die innere Sicht manchmal eine andere ist als jene von außen. Es kann sein, dass ich einzelne Situationen unterwegs nicht gleich wahrnehme wie als Beobachterin von außen. Von Oberstdorf schaue ich inzwischen aber nur noch den Zieleinlauf und diese so emotionalen Bilder an.
Laurien, du sagtest, du hättest jede Sekunde dieses triumphalen Moments gespeichert.
van der Graaff: Ab dem Zeitpunkt, als Nadine zur letzten Runde aufbrach, ist alles präsent, das läuft wie ein Film ab. Das, was danach folgte, hat sich erst recht in meinem Gedächtnis eingebrannt. Ich hatte mir eines vorgenommen: Wenn der Erfolg da ist, koste ich ihn bewusst aus. In Oberstdorf kam dieser grandiose Moment, also sagte ich mir: Geniess den Tag, lass alle Eindrücke auf dich wirken! Ich weiss noch genau, wer wann zu uns kam, wie die jeweilige Person reagierte, was sie sagte. Es war einfach nur schön, die Freude mit Leuten zu teilen, die uns beide lange begleitet und unterstützt haben.
Fähndrich: Wenn ich zurückdenke, sehe ich die Ereignisse aus der Vogelperspektive. Wie wir zwei feierten, wie unsere Leute mitjubelten und wir danach zusammen ein Bild machten. Das fand ich wunderschön und bleibt ewig in Erinnerung.
Habt ihr vor Ort bereits realisiert, was ihr vollbracht habt? Oder mussten zuerst ein paar Tage vergehen?
Fähndrich: Nicht wirklich, es hat schon gedauert. Ich glaube, es ist viel schwieriger, so etwas zu realisieren, wenn man einen solchen Erfolg selber erreicht hat oder jemand anders. Was mir half und vor Augen führte, dass wir eine WM-Silbermedaille geholt haben, waren die Reaktionen von fremden Menschen. Sie sprachen mich an und sagten, sie hätten jetzt noch Gänsehaut. Offensichtlich hat unser Rennen sehr viele bewegt. Und dann gab es auch noch eine Gratulation von Bundesrätin Viola Amherd, da denkst du schon: Ui, wir waren wohl ziemlich gut …
van der Graaff: Ich habe schon oft Interviews gehört, in denen Sportlerinnen und Sportler nach einem Erfolg sagten: «Ich realisiere es gar noch nicht, was eben abgegangen ist.» Und ich dachte: Kann das sein? Jetzt verstehe ich sie, es ist wirklich so.
Nur eine Feier im großen Stil konnte nicht stattfinden.
van der Graaff: In diesen Zeiten ist es halt nicht möglich. Aber ein bisschen feiern, das konnten wir schon.
Fähndrich: Es muss nicht immer etwas Großes und Pompöses sein. Die Feier war klein, aber fein, dazu kamen die enormen Reaktionen der Leute. Für uns passte es.
Nadine, nach verpasster Final-Qualifikation im Einzel-Sprint sprachst du von einem totalen Systemausfall. Wie gelang es dir, diese Enttäuschung so schnell wegzustecken?
Fähndrich: Es fühlte sich wirklich an wie ein Systemausfall. Die Verunsicherung war am Tag des Teamsprints zunächst noch spürbar. Laurien redete mir zwischen Halbfinal und Final gut zu, das half zweifellos. Trotzdem frage ich mich, wie ich die letzte Runde so hinbekommen konnte.
Hast du eine Antwort?
Fähndrich: Vermutlich gelang mir das, weil ich es mir so oft vorgestellt habe, eine solche Leistung abzuliefern. Interessant finde ich, wie ich diesmal im Ziel jubelte. Nach Siegen riss ich bislang die Arme nach oben. Aber an dem Tag war das anders, da blieben die Hände unten, und ich deute diese Geste als Erleichterung. Es fiel mir ein riesengroßer Stein vom Herzen: Ah, geschafft!
Laurien, wie nimmst du denn Einfluss auf Nadine?
van der Graaff: Wir kennen einander ja sehr gut. Ich merkte anhand ihrer Körpersprache, dass irgendetwas nicht stimmt. Es war nicht eine Frage der körperlichen Verfassung, es ging eher um das Mentale. Wir mussten nur einen Schalter umlegen, dann würde es funktionieren.
Wusstest du, wie das geht?
van der Graaff: Ich konnte nur ahnen, was ihr den Druck nehmen würde, damit sie befreit laufen konnte. Ich sagte: «Lass uns Spaß haben, lachen, dafür haben wir gearbeitet.»
Fähndrich: Die Worte haben sicher gewirkt: Freude haben, das war der Schlüssel. Es gab auch Momente im Halbfinal, in denen ich Mühe mit dem Atmen hatte. Auch darüber sprachen wir in der Pause. Laurien sagte mir, wie sie mit solchen Situationen umgeht. Das nahm ich mit und wendete es intuitiv an.
Bist du für Nadine wie ein Mentalcoach?
van der Graaff: Das ist etwas übertrieben. Ich bin schon etwas länger dabei, habe viele solcher Momente wie Nadine erlebt und weiß darum sehr genau, wie sich das anfühlt. An diesem 28. Februar in Oberstdorf war irgendwie spürbar, dass es unser Tag werden würde, auf den wir lange hingearbeitet hatten. Und wenn ich von „wir“ rede, meine ich nicht nur uns zwei Athletinnen, sondern ein ganzes Team mit Trainern und Serviceleuten, die uns trugen und großartig unterstützten. Wir mussten eigentlich nur noch laufen. Das klingt relativ einfach, war aber so.
Wie muss man sich den Austausch vorstellen: stets harmonisch?
Fähndrich: Nein, gar nicht. Wir sind nicht immer mega nett zueinander, wir reden nicht Dinge schön, sondern pflegen einen sehr ehrlichen Umgang.
van der Graaff: Ja, wir sind direkt zueinander, aber immer korrekt. Ich weiß, woran ich bei Nadine bin, umgekehrt ist es genauso der Fall. Und keine von uns ist beleidigt, wenn sie von der anderen etwas zu hören bekommt, das vielleicht nicht sehr angenehm ist. Weil wir füreinander nur das Beste wollen.
Dabei seid ihr zwei ja auch Konkurrentinnen.
van der Graaff: Ja, klar. Aber gerade im Winter verbringen wir extrem viel Zeit miteinander. Da wäre das Zusammenleben brutal schwierig, wenn wir uns nicht gut verstehen würden.
Fähndrich: Jede freut sich für die andere, wenn sie Erfolg hat. Und jede leidet mit, wenn es der Kollegin nicht gut läuft. Da spielt es keine Rolle, dass wir auch Konkurrentinnen sind. Ich glaube, dass wir zwei charakterlich unterschiedlich sind und uns dadurch bestens ergänzen.
van der Graaff: Nadine sucht die Schuld oft bei sich, wenn einmal etwas nicht so gelingt, wie sie sich das vorstellt. Dann relativiere ich, indem ich ihr sage: „Ganz viele Faktoren haben Einfluss auf ein weniger gutes Ergebnis.“
Fähndrich: Das, was ich am stärksten beeinflussen und kontrollieren kann, ist die eigene Leistung. Darum bin ich wohl auch sehr selbstkritisch.
van der Graaff: Nadine hat in der Vergangenheit aber viel an sich gearbeitet, ist reifer geworden, und ja, ein bisschen frecher. Manchmal überrascht sie mit Sprüchen, da denke ich: Hast du das jetzt gesagt, Nadine, nicht ich? (beide lachen)
Ihr habt vor der WM angekündigt, dass ihr eine Medaille holen wollt. Das ist eigentlich unschweizerisch forsch …
Fähndrich: … Diese Ankündigung kam von mir …
van der Graaff: … Ja! Wir hatten beide ein Online-Interview, zuerst Nadine, dann ich. Die erste Bemerkung des Journalisten: „Nadine hat gesagt, dass alles andere als eine Medaille eine Enttäuschung wäre.“ Ich dachte: Okay … Aber ich widersprach nicht, denn: Es stimmt ja. Wenn wir Vierte, Fünfte oder Sechste werden, sind wir enttäuscht. Das ist die Wahrheit. Wieso soll man dieses Ziel nicht klar formulieren dürfen?
Fähndrich: Es ist ja kein Versprechen, dass man es erreicht, im Sport hat niemand eine Erfolgsgarantie. Aber man muss in diesem spezifischen Fall schon auch die Ausgangslage berücksichtigen: Wir standen in zwei Saisons nach vier aufeinanderfolgenden Teamsprints auf dem Podest. Dann darf man gewisse Ansprüche an sich haben.
Habt ihr euch damit nicht selber Druck gemacht?
van der Graaff: Ich habe es nicht als Druck empfunden.
Fähndrich: Ich auch nicht.
van der Graaff: Alle anderen rundherum sind vielleicht erschrocken, aber wir … Nein.
Fähndrich: Wir wussten: Wenn wir abrufen, was wir draufhaben, sind wir auf dem Podest. So einfach war das.
Laurien, Ende Saison 2018/19 warst du ausgebrannt und dachtest an den Rücktritt. War für dich WM-Silber nun eine besondere Genugtuung?
van der Graaff: Es ist eine Bestätigung, das Richtige gemacht zu haben. Die Überzeugung, noch einmal erfolgreich laufen zu können, motivierte mich, weiterzumachen. Und auch Nadine hatte einen Einfluss.
Fähndrich: Für mich war es schön, weiterhin eine Athletin wie Laurien im Team zu haben, mit der ich so gut auskomme, die mich auch fordert im Training und mit der ich gemeinsame Ziele verfolge.
Wie viele Ziele verfolgt ihr noch? Oder anders gefragt: Wie lange machst du weiter, Laurien?
van der Graaff: Das ist die Frage der Fragen. Wenn ich die Karriere fortsetze, dann wohl nur noch eine Saison. Aber es ist nicht ratsam, sich im Frühling zu entscheiden, wenn man müde ist. Ich warte noch ab.
Sind auch deine Batterien leer, Nadine?
Fähndrich: Absolut, sowohl physisch wie mental bin ich müde. Gefühlsmäßig so ausgeprägt wie noch nie nach einer Saison.
Sind die Olympischen Winterspiele 2022 weit weg?
van der Graaff: Zuerst muss ich für mich Klarheit schaffen, wie meine Zukunft aussieht. Aber wenn ich mich entschließe, 2022 noch dabei zu sein, habe ich den Ehrgeiz, meine Karriere mit einem möglichst guten Resultat zu beenden.
Fähndrich: Die Spiele sind natürlich präsent und ein hohes Ziel, 2022 soll ein großes Jahr werden. Aber ich sage jetzt nicht, dass alles andere als eine Medaille eine Enttäuschung wäre. (lacht)
Quelle: Peter M. Birrer/Swiss Ski